Donnerstag, 22. Dezember 2011

Eine stinknormale Leichensache. (2)

Mittwoch, 21. Dezember 2011.
Bei Willi vor der Ecke. Kneipengespräche. (7)


Werner: Wir haben also die Tür aufgebrochen. Und dann hockt der da vorm Computer. Im Jogging-Anzug, den Kopf auf der Tastatur. Beziehungsweise das, was noch davon übrig war. Vom Kopf, meine ich. Und drüber schweben die Kästchen von einem Uralt-Bildschirmschoner über den Monitor. (schaut zum Fenster hinaus) Stell dir vor: Der war noch bei Facebook eingelockt. Und mitten beim eMail-schreiben. Der ist da einfach weggestorben, online, sozusagen. Und keiner hat`s gemerkt.

Verleger: Das ist nicht schön.

Werner: Ein Glück für uns, dass der die Heizung noch nicht angestellt hatte. Pech für ihn, sonst hätte sich vielleicht doch früher mal einer beschwert, wegen dem Gestank. (sieht den Verleger an) Tja, was soll ich sagen? Eine stinknormale Leichensache war das! (lacht) Im wahrsten Sinne des Wortes. Und deshalb versteh ich nicht, warum der mir einfach nicht mehr aus dem Kopf geht: Wie er da sitzt und einfach tot ist und keinen juckt`s. Eigentlich wär ich schnell fertig gewesen; es gab nicht den geringsten Anhaltspunkt, dass da irgendein Fremdverschulden zu ermitteln wäre. Herzinfarkt, Schlaganfall, was weiß ich. Also, das Routineprogramm: Leiche untersuchen, nachschauen, ob womöglich irgendwer in der Wohnung war, ein, zwei Nachbarn befragen. Ein bisschen gestöbert im Facebook-Account, kleiner Check auf der Festplatte, kein Password, keine Sicherung, nix. Und die eMail? Bin nicht richtig schlau draus geworden, es ging um irgendwelche Recherchen, und der wollte wohl unbedingt irgendeinem, der sich Der Chronist nennt, was mitteilen. Auf den ersten Blick hörte sich`s dramatisch an. Aber als ich dann ein bisschen mehr gelesen habe, war mir klar: Das ist wirklich nichts von Belang. Tja. Eigentlich wär`s das dann gewesen. Pietät verständigen, Leichensache schreiben, ab damit zur Staatsanwaltschaft, finito. (trinkt einen Schluck. Schweigt.)

Verleger (trinkt einen Schluck. Schweigt.)

Werner: Niemand in diesem ganzen verdammten Haus konnte mir irgendetwas über den Toten sagen, außer, dass er von Hartz IV lebte. Dass seine Frau vor Jahren weg ist. Und dass da nie irgendjemand mal aufgetaucht ist, keine Besuche, keine Familie, nichts.
Na ja, und dann hab ich die Telefonnummer angerufen, die auf einem Zettel stand, der auf dem Wohnzimmertisch lag. Eine Frau, die in der örtlichen Bibliothek arbeitet. Älterer Jahrgang, kurz vor der Rente. Da hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dass das irgendwen irgendwie berührt, dass der tot war. Obwohl sie ihn auch nicht näher gekannt hat.
Meine Kollegin hat mir einen Vogel gezeigt. Es sei völlig überflüssig, da hinzufahren. War es auch. Es gab nichts mehr zu ermitteln: die Sache war glasklar: Natürlicher Tod aus ungeklärter innerer Ursache. Eine stinknormale Leichensache halt.

(Forts. folgt)

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