Donnerstag, 15. Dezember 2011

Blubberndes Heiapopeia.

18. November 2011.
Der Chronist. Medienauswertung. (6)


Buchbranche Großartig! Verstörend!! Ja!!!

Kaum ein Roman ist so schlimm wie das Gedröhn seines Klappentexts. Sind wir wirklich von drastischen, sezierenden, dichten Meisterwerken umgeben, die alle ihresgleichen suchen?
Früher, als die Buchproduktion noch kein Karussell war, von dem die Werke ernsthafter Autoren im Dreimonatsrhythmus heruntergeschleudert wurden, um Platz für neue Sensationen zu schaffen, früher also, da sollte der Klappentext eines Romans den Käufer (also: Leser) darüber informieren, was in dem Buch drinsteht. Wie heute gab es komplizierte und weniger komplizierte Bücher. Den Käufern der komplizierten Bücher durfte man durchaus auch einmal einen Klappentext zumuten, der nicht umgehend dazu führte, dass man sich vorkam wie in einer Dauerwerbeschleife.
Ein ganz zufällig gewähltes Beispiel: Martin Walsers Roman Jagd, erschienen 1988 als Hardcover. Der Klappentext verläuft komplett über die vordere und hintere Lasche. (…) Vom Lektor geschrieben, möglicherweise gar vom Autor selbst.

23 Jahre später. Die Herbstvorschauen liegen auf dem Schreibtisch. Gute Bücher darunter, ganz bestimmt, von den Verlagen gepriesen in einer Sprache dunkelster Marketinghöllen. In der Gier nach allgemeiner Verkäuflichkeit, in der Hoffnung auf einen Bestseller, in der Angst, bloß keinen einzigen potenziellen Käufer zu verschrecken, greift der Großteil der Verlage ausgerechnet auf dem Gebiet der Literatur, wo sprachlicher Eigensinn, Individualität, Randständigkeit gefragt und gewünscht sind, nach Versatzstücken von blubberndem Heiapopeia. (…)

Liebesgeschichten beispielsweise sind immer zart, poetisch, von poetischer Kraft oder auch verstörend. Verstörend sind sie dann, wenn sie nicht gut gehen, und wo geht die Liebe schon einmal gut? Kaum ein Buch ohne das Drama einer großen Leidenschaft, den Reigen wilder erotischer Begegnungen und hasserfüllten Streit. Verstörend kann im Übrigen alles sein. Der Leser will, so scheint man zu glauben, in allererster Linie stets verstört werden (…)

Streng darauf geachtet wird auch, dass die Bücher kein Leck haben, weswegen sie dicht zu sein haben, am besten auch noch atmosphärisch dicht (aber trotzdem lakonisch). Dorfromane haben Konjunktur; allerdings nur, wenn sie im Kleinen die Frage nach den ganz großen Dingen stellen. Dann werden sie nämlich zu Parabeln. Zu tief anrührenden Parabeln über das Leben und die Liebe, das Schreiben und den Tod.

Bekanntermaßen ist der durchschnittliche Buchkäufer weiblich und die durchschnittliche Frau zumindest an Emanzipation interessiert. Da liegt es auf der Hand, dass Frauenfiguren stark, aber auch verletzlich sein müssen. Wenn eine junge Frau ihren Debütroman veröffentlicht, ist es von entscheidender Bedeutung, dass er einerseits einer Generation eine Stimme gibt, andererseits aber auch in tragikomischer Suada einen kühl sezierenden Blick auf unsere Gesellschaft wirft. Man kann sich einen beliebigen Katalog greifen, mit leichter Hand, versteht sich – überall findet man düstere Kammerspiele, kafkaeske Gesellschaftsvisionen und wuchtige Zeitdokumente von drastischer Offenheit, die die Absurditäten der menschlichen Existenz freilegen.
Müde wird der Kopf von alldem, bis der Geist plötzlich wieder erwacht: "Und wieder nutzt der Erzähler sein bewährtes Gefäß (...) als das Gefäß aller Erfahrungen – für Abgründe der Vernunft, für Brückenköpfe zu offenen Horizonten, für die realistisch-antirealistische Doppelnatur des Menschen und den inneren Partisanen in jedem von uns.“ Kein Wort verstanden. Großartig. Verstörend.

Leser-Kommentare: 28 (Stand: 18.11.2011, Auszug)

Meryll
16.08.2011 um 18:43 Uhr
Orientierung
Da ich selber mal ein Praktikum in der PR-Abteilung eines englischen Verlags gemacht habe, kann ich auch sagen, wie das so abläuft. Es werden etliche Ausgaben des baldig erscheinenden Buchs an Journalisten, Blogger und Fernsehredakteure, vor allen Dingen BBC, verschickt, zusammen mit einem Infoblatt zu dem Buch. Deshalb klingen viele Kritiken von Feuilletonisten in der Inhaltsbeschreibung des Buches teilweise ähnlich, da Formulierungen aus der Inhaltsbeschreibung verwendet werden, sind ja schon elegant vorformuliert.
In England sind die Texte auf den Covern eher zurückhaltend, es wird nicht so mit schmierigen Sätzen zum Inhalt und der Sprache um sich geworfen wie in Deutschland. So kam es mir zumindest vor, wobei das natürlich vom jeweiligen Verlag abhängt. (…)

Archetyp
12.08.2011 um 13:55 Uhr
„Und wieder nutzt der Erzähler …“
… sein bewährtes Gesäß und lässt ein Buch oder einen Klappentext unter sich (frei nach einer Kurzrezension von Kurt Tucholsky). Vielleicht sollten Klappentextautoren vor Endredaktion und Druck ihre Werke mit dem Blablameter testen unter http://www.blablameter.de

Christoph Schröder
12.08.2011 um 13:59 Uhr
Blablameter
Lieber Archetyp,
das ist an sich eine gute Idee - allerdings habe ich gestern diesen vor Phrasen nur so strotzenden Text in den Blablameter eingegeben - der bescheinigte mir dafür ein weitgehend bullshitfreies Deutsch. Merkwürdig.
Freundliche Grüße,
C. Schröder

Ich habe mal spaßeshalber eine Leseprobe aus Dieter Bohlens "Der Bohlenweg: Planieren statt Sanieren" (entnommen von amazon.de) im Blablameter eingegeben. Ergebnis: enthält kein Blabla... Der Algorithmus scheint nicht so ganz richtig gewählt zu sein.

GrinnyLittlebum
12.08.2011 um 14:03 Uhr
Klappentext-Alpträume
In der Unterhaltungsliteratur waren die Klappentexte eigentlich immer schon unterirdisch. Ich bin mit Science-Fiction-Literatur aufgewachsen und habe schnell gelernt, dass da ausschließlich 'Meisterwerke' erscheinen und jedes Fließbandprodukt eines Zeilenschinders mindestens SF-Helden wie Dick/Ballard/LeGuin ebenbürtig ist.
Seit einigen Jahren fällt mir außerdem auf, dass das Klappentextblabla mittlerweile schon die Titel erobert hat. SF-Werke heißen dann gern "Sternentanz", obwohl im Buch sich nicht einmal ein Astronaut an einem langsamen Walzer versucht, oder bei den Kollegen aus dem Horror-/Vampirschmonzettenfach heißen Werke "Höllendämmerung" bzw. "Seelenkuss". Ächz. Nach einer allen eingefleischten SF-Fans geläufigen Faustregel (genannt "Sturgeon's Law" - Näheres bei Wikipedia) sind gefühlte 90 % von allem und jedem Scheiße. Wenn ich Titelbeispiele wie die eben von mir erwähnten auf Büchern sehe, ist mir gleich klar: 'Ah, die gehören zur 90-%-Mehrheit. Klappentextlesen unnötig!'

UsH
12.08.2011 um 14:57 Uhr
Halbwertzeit der Sprache
Das, was die Literaten an Wirklichkeit darstellbar machen, das, was greift, wird mit großer Zwangsläufigkeit aufgesaugt, amalgamiert, plagiiert - und dann benutzt, kommerzialisiert, wieder und wieder, bis von der ursprünglichen Bedeutung, die einst die Seele berührte, nichts mehr übrigbleibt. Erst haben wir den Roman verschlungen, dann seine Sprache uns. Und jetzt sind wir ein Teil davon.
In der Privatheit, der Verweigerung, kann ich dem als Autor und als Konsument entgehen: als Autor, indem ich nichts (oder nur wenig) auf die "Erfolgskriterien" gebe, als Konsumer (Leser), indem ich so lange suche, bis ich die Autoren gefunden habe, die sich ebenfalls - wie ich - diesem Zeitgeist verweigern und ihr eigenes machen. (…) Fazit: Wir sind verantwortlich dafür, wo wir hinschauen. (A. Camus) (…)

Paul Ericsson
13.08.2011 um 8:28 Uhr
Es gibt eine Lösung
Gehen Sie zu Ihrem nächsten Buchhändler. Nicht zu Thalia, amazon, etc.
Bei einem guten Sortimentshändler werden Sie gute Bücher finden. Lesen Sie in aller Ruhe ein paar Seiten und entscheiden Sie. Klappentext? Bringt null.

gansklein
13.08.2011 um 15:47 Uhr
Köstlicher Artikel
merci dafür

maxizwo
15.08.2011 um 10:51 Uhr
... nicht phat, cool, geil, stark, dufte... nein:
Hat der Autor der sehr berechtigten Klappentextkritik nicht ein Wort vergessen, das seit ein paar Jahren die Spitze der Mode-Adjektive bei der Beschreibung von jedweder künstlerischer Aktivität anführt? = "spannend".

Christoph Schröder
15.08.2011 um 11:36 Uhr
Sie haben Recht
Die Universalfloskel "spannend" hätte unbedingt noch dazugehört. In den 90er-Jahren wurde immer wahnsinnig viel gebrochen. Das hat sich ein wenig gelegt.

Quelle: http://www.zeit.de/kultur/literatur/2011-08/klappentexte  (Zeit Online, Christoph Schröder, 12.08.2011, Auszug, Stand: 18.11.2011)

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