Sonntag, 25. März 2012

Wo ist der Sessel?

Donnerstag, 15. März 2012.
Der Verleger. Tagebucheintrag. (21)


Gestern habe ich gemerkt, dass ich alt werde und die Welt sich gleichwohl weiterdreht. Dass ich vom Morgen rede, im Heute lebe und den Vortag denke. Und deshalb womöglich auch morgen im Heute lebe und deshalb langsam von gestern bin.
Bertis Ohrensessel ist weg! Und wer ist schuld? Ich. Weil ich diesen vermaledeiten Verlag gegründet habe, den die Welt nicht braucht, außer vielleicht der Chefkommentator namens Ratlos, der täglich die dümmliche Rubrik „Neues vom Verleger“ mit Schwachsinn bestückte (die er glückseligerweise jetzt eingestellt hat). Und schuld bin ich auch, weil ich mich auf Ad eingelassen habe, denn hätte ich den Typen beim ersten Treffen zum Teufel gejagt, wäre ihm Berti nie begegnet, und der Ohrensessel wäre noch da. Jede Wette wäre ich eingegangen, dass Berti sich NIE von Ad würde einkochen lassen, aber offenbar hat doch jeder Mensch bestimmte Tage, an denen er für Schwachsinn aufnahmefähig ist. Und dass es diesen Tag gab, daran bin ich auch schuld.

Zwei Wochen ist das jetzt her. Ein netter Abend bei Willi, Gespräche über die Welt der Bücher beim Bier mit Berti. Und dann kam Ad. Und laberte und laberte. Sein Glück und mein Pech an diesem Abend war, dass Berti einen Artikel offline gelesen hatte, den Ad online gelesen hatte, irgendwas über einen innovativen Buchladen, ich glaube, Quelle war das Börsenblatt, das Berti trotz der hohen Kosten stur im Print-Abo bezieht. Tja, und ich konnte auf einmal nicht mehr mitreden. Und Ad blühte auf, und Berti blühte mit! Weiß der berühmte Geier, wie der es hingekriegt hat, dass Berti ihm nicht nur zuhörte, sondern auch noch wohlwollend nickte. Ich trank derweil einige Frustbier und ging schließlich heim. War ohnehin hundemüde, weil ich zu dieser Zeit und auch danach hundemäßig arbeiten musste. Kein Tag unter 14 Stunden, und dann auch noch dieser Zinnober mit dem „Lieben Kind“, wie unsere Corpy-Tante mittlerweile hinter vorgehaltener Hand genannt wird. Bei mir firmiert sie nur noch unter „die Lektorin“, ich sag`s aber keinem. Es wüsste ja auch keiner, warum ich das lustig finde.

Als ich gestern das erste Mal wieder durchschnaufen konnte, weil mein Chef mir tatsächlich schon gegen 17.00 Uhr sagte, dass ich pünktlich nach Hause gehen könne, bin ich geradewegs in Bertis Laden. Ich hatte zwar noch einige Bücher auf meinem Lese-Stapel liegen, aber von Zeit zu Zeit brauche ich einfach mal ein bisschen Buchladen-Duft. Und an diesem Tag brauchte ich den ganz besonders. Ich freute mich also auf das gedämpfte Licht zwischen den deckenhohen Regalen, den wackeligen Büchertisch mit den Neuheiten und das Klappern der altersschwachen Kasse, aber vor allem freute ich mich auf den Ohrensessel, in dem ich seit Jahr und Tag mit höchstem Vergnügen allerlei Literarisches probelese.

Ich gehe also froher Erwartung in den Laden, atme die gewohnte Bücherluft ein, und sehe: keinen Sessel mehr! Stattdessen steht da ein PC-Tisch samt Monitor und Tastatur, Kabel rechts und Kabel links und davor der konfuse Berti, der auf den Tasten rumdrückt und statt einer Begrüßung ruft: „Dich schickt der Himmel!“
„Wo ist der Sessel?“, frage ich.
„Weg. Kannst du mir mal helfen? Ich stehe seit Stunden vor diesem Gerät und verstehe rein gar nichts.“
Ich schaue auf den Monitor. Eine Fehlermeldung, die ich nicht kenne. „Was bitte heißt: weg?“
Berti sieht mich streng an. „Predigst du mir nicht ständig, ich solle endlich über eine Modernisierung meines Ladens nachdenken?“
„Moderate Modernisierung“, wende ich ein. „Wo ist der Sessel?“
„Dein Herr Ad war so nett und hat ihn nach der Installation der PC-Anlage zwecks Entsorgung gleich mitgenommen.“
Ich hole Luft, um meinen Frust loszulassen, aber Berti lässt mich gar nicht erst anfangen.
„Irgendwo muss ja die schöne neue Welt hin, oder?“, sagt er freundlich und macht eine Handbewegung in Richtung Regale. „Und in einem Buchladen auf Stellfläche für Bücher zu verzichten, wäre kontraproduktiv. Sagt übrigens auch dein Herr Ad.“
Am liebsten hätte ich gebrüllt: Scheiß doch auf den blöden Ad und die schöne neue Welt, wenn sie meinen geliebten Ohrensessel kostet! Ich schluckte es aber tapfer runter und versuchte, Bertis PC-Problem zu lösen.

Als ich spätabends nach Hause kam, hatte ich das Gefühl, aus ebenjener Welt gefallen zu sein.

Keine Kommentare: