Sonntag, 1. April 2012

Die letzten Folien.

Samstag, 31. März 2012.
Bei Willi vor der Ecke. Kneipengespräche. (10)


Ad (leicht angegrätzt): Gibt es einen Grund, warum Sie den Buchhändler mit seinem Nachnamen ansprechen und uns anderen nicht?

Anne (lächelt): Ihrer Stimmlage nach vermuten Sie einen?

Rudi (lapidar): Vermutlich der gleiche, warum sie mich ansonsten duzt und mit Ratlos tituliert.

Ad: Und der wäre?

Rudi: Sie hält mich für einen Dummkritzler.

Anne: Iwo. Du kritzelst ganz gescheit, gemessen an deinen Möglichkeiten.

Rudi (erbost): Das ist ja nicht zu fassen! Trauen Sie mir professionelles Arbeiten etwa nicht zu?

Anne (lächelt): Ihre Persiflagen auf Möchtegernschreiberlinge, die ihre Manuskripte sogar an Verlage schicken, die gar keine Bücher verlegen, habe ich mit ausgesuchtem Vergnügen gelesen.

Rudi: Im Grunde Ihres Herzens finden Sie Leute wie mich überflüssig.

Anne: Ich bin langjährige Abonnentin Ihrer Zeitung.

Rudi: Und warum behandeln Sie mich dann so respektlos?

Anne (schaut die anderen an): Tue ich das?

Ad: Also, ich finde auch, Sie sind überempfindlich, Ratlos.

Rudi: Ich wüsste nicht, was Sie meine Befindlichkeit angeht!

Ad: Siehste. Das meinte ich.

Rudi: Ich bin ein neutraler, unabhängiger und vorurteilsloser Journalist! Ich …

Alle lachen.

Ad: Um aufs Thema zurückzukommen. Ich vermute mal, dass sie dem Buchhändler bloß schöntun will. (lacht) Vermutlich hat sie einen Roman geschrieben, und der Schmöker muss ja unter die Leute.

Berti setzt an, etwas zu sagen, aber Anne winkt ab: In der Tat. Es hat etwas mit Respekt zu tun.

Berti: Oder dass Ihr über eine Welt redet, in die ich nicht mehr gehöre.

Anne: Ich würde mir wirklich wünschen, dass es nicht so wäre.

Ad (hämisch): Wie salbungsvoll! Sind es nicht die Bewohner eben dieser edlen Welt, die auf mich und meinesgleichen verächtlich herabschauen? Die so tun, als wäre Werbung per se was Schlechtes? Dass ich geackert hab wie ein Blöder, damit die Sache mit dem Thoni-Verlag irgendwie flunzt, ignorieren die doch völlig! Zum Dank werde ich rausgeschmissen. Und Ad Web ist ein Verstoß gegen die Menschenwürde!

Derry: Hilft aber ungemein, dich zuzuordnen und ist auch von flüchtigen Lesern leicht zu merken.

Ad: Das hast jetzt nicht du gesagt.

Anne: Ich kann ja nicht alles sagen.

Ad (sieht Anne an): Ich bin doch bloß ein Spielball für Sie!

Anne: So wie der Thoni-Verlag ein Spielball für Sie ist.

Derry: War.

Ad: Nein! Ich habe an diese Idee geglaubt! Ich glaube immer noch daran! Das Ding hat Potenzial! Und was tut der Depp? (zeigt auf Derry) Verschenkt den Laden!

Berti: Tatsächlich?

Derry (nickt).

Anne: Ad, sei ehrlich. Du glaubst bloß an eines: Groß rauszukommen! Endlich mal einen Coup zu landen, der dich für die Nachwelt konserviert. Oder dir zumindest für eine gewisse Dauer ein angenehmes Leben sichert.

Rudi: Wären Sie vielleicht so gnädig, uns bei Gelegenheit zu verraten, was hier gespielt wird? Woher Sie die Chuzpe nehmen …

Anne (sieht Derry an): Powerpointpräsentationen waren noch nie Corpys Stärke. Und Kostüme zieht sie nur an, wenn sie sich unsicher fühlt. Ich würde sagen: Es besteht durchaus Hoffnung.

Derry (kriegt rote Ohren).

Berti (interessiert): Hast du mir etwa relevante Dinge aus deinem aktuellen Leben verschwiegen, mein Lieber?

Derry (verlegen): Es ist nicht, was du denkst.

Anne (grinst): Stimmt. Ihr habt bloß über Bücher geredet, über Lektorinnen, die es bedauern, keine mehr zu lektorieren, und über einen Verleger, dessen Ziel es ist, auf keinen Fall welche zu verlegen. (Schaut zum Tresen, nickt einem älteren Mann zu, der auf einem Hocker sitzt und scheinbar völlig uninteressiert an einem abgestandenen Bier nuckelt): Ich glaube, wir sollten die Runde komplettieren.

Derry: Den kenn ich doch …

Rudi: Ja, stimmt! Der war schon mal hier!

Derry: Als ich die dämliche Idee mit dem Verlag hatte!

Rudi: Und ich die dämliche Idee, darüber zu schreiben.

Der Mann nimmt sein Bier, steigt vom Barhocker und kommt zögernd näher.

Anne: Darf ich vorstellen? Ron.

Ron: Ist es nicht angebracht, bei der Wahrheit zu bleiben?

Anne: Herr Chist, ich bitte Sie! Sind Sie nicht ein Meister darin, Ihre Wahrheit in eigener Zusammenstellung als wahrhaftig zu postulieren? Wie Sie füge ich lediglich Dinge zusammen, die bereits da sind. Ich sage erst das eine und komplettiere es danach mit dem anderen, in der Gewissheit, dass nur das die Wahrheit sein kann, und dass sie auch alle anderen auf Anhieb verstehen. Und weil wir uns hier mit Vornamen anreden, finde ich Ron einen guten Kompromiss.

Ron (nimmt sich einen Stuhl vom Nachbartisch und setzt sich schweigend).

Ad (ärgerlich): Es wäre schon hilfreich zu wissen, mit wem wir an einem Tisch sitzen, finden Sie nicht?

Anne (schaut Ron an, lacht): Na, los, mein Lieber! Worauf warten Sie? Erzählen Sie den Figuren hier endlich, was Sie mit ihnen angestellt haben.

Ron (verstimmt): Ich habe lediglich Sachverhalte dokumentiert.

Anne: Die Ihnen andere in nach eigenem Gusto zusammengewürfelten Häppchen serviert haben. Sie sind wahrlich ein Ausbund an Neutralität.

Derry: Ich versteh gerade nur Bahnhof.

Ron (zu Anne, ärgerlich): SIE müssen gerade anfangen, von Manipulation zu reden! Wenn sich irgendwer die Leute nach eigenen Klischees zusammenbastelt, dann ja wohl Sie!

Rudi: Stimmt.

Anne (trinkt genussvoll einen Schluck Bier. Sieht der Reihe nach alle am Tisch an. Macht eine kleine Pause, bevor sie spricht): Die Wirklichkeit beinhaltet Ereignisse, die in unserem Leben stattfinden. Wahrheit ist die Bedeutung, die wir ihnen glauben geben zu müssen. Je enger wir emotional mit unseren Wahrheiten verbunden sind, desto intensiver versuchen wir, sie als die einzige, als die wahre Wahrheit zu postulieren. Die für alle zu gelten hat. Insofern haben Sie recht, Rudi.

Ad: Dieses theoretische Geschwafel konnte ich schon in der Schule nicht ab.

Derry: Weshalb du lieber Aufsätze und Diktate geschrieben hast.

Rudi: Muss ich das verstehen?

Anne (in die Runde): Kennen Sie Herrn Meyer?

Derry: Nein.

Rudi: Aber ja!

Ad: Ja.

Berti: Nein.

Anne: Und was heißt das nun?

Rudi: Dass Sie ein neues Spielchen mit uns spielen.

Anne (lächelt): Also ist Ihre Antwort auf das Spielchen auch eins. Mithin: Fake?

Rudi: Mitnichten!

Anne: Eine unüberlegte Äußerung eines ansonsten überaus überlegten Journalisten?

Rudi: Die spontane Antwort auf eine dämliche Frage! Einen Menschen mit Namen Meyer kennt doch jeder!

Anne: Also haben Herr Buchmann und Derry gelogen?

Derry: In meinem ganzen Bekanntenkreis gibt‘s keinen Meyer. Vielleicht irgendwo in der Firma. Aber ich bin ihm noch nicht begegnet, falls es ihn tatsächlich gibt.

Anne: Das klingt ehrlich. Die Frage bleibt: Ist es auch wahr? Oder fällt dir vielleicht doch noch ein, dass es irgendwo in deiner Vergangenheit einen dunklen Fleck namens Meyer gibt?

Derry: Also bitte!

Anne: Darf ich dich an den Verrückten erinnern, der dir vor acht Jahren den Wagen zu Schrott gefahren hat?

Derry: Der hieß Meyer? Hab ich doch glatt vergessen.

Anne: Manchmal nutzt es, Wahrscheinlichkeiten zu Rate zu ziehen, um einem Irrtum auf die Spur zu kommen. Sachkenntnis hilft natürlich auch.

Derry: Und warum erinnerst du dieses unwichtige Detail?

Anne (zuckt die Schultern): Das musst du die Regie fragen. (Sieht die anderen an.) Ich präzisiere: Kennen Sie den älteren Herrn namens Meyer, der mit Vornamen Daniel heißt, einen Schnauzer und graue Haare hat und im Hinterhaus von Herrn Buchmanns Laden wohnt? Im gleichen Haus übrigens wie Sie, Ad.

Rudi: Deshalb hat Ad ja Ja gesagt.

Derry: Du wohnst im Hinterhaus der Buchhandlung?? Das wusste ich ja gar nicht!

Ad: Was glaubst du denn, warum ich regelmäßig in diese ausgesuchte Kneipe gehe? Dass ich jedes Mal von Friedberg anreise, weil‘s hier so toll ist? Ja, der Meyer. Ich hab sofort gewusst, dass Sie nur den meinen können. Der totale Eigenbrötler. Redet nix, arbeitet nix. Ich seh den immer, wenn ich den Müll rausbringe.

Anne: Und Sie kennen ihn nicht, Herr Buchmann?

Berti: Nein. Ich habe zwar vermutet, dass Sie womöglich diesen Herrn meinen könnten, aber alles was ich über ihn weiß ist, dass er erst seit einigen Monaten in diesem Haus wohnt, dass er nach dem Tod seiner Frau sehr zurückgezogen lebt und wegen eines schweren Rückenleidens frühverrentet ist. Anfangs kam er hin und wieder in die Buchhandlung. Aber kennen? Nein, das wäre zu viel gesagt. Jetzt sehe ich ihn nur noch ab und zu, wenn ich den Müll rausbringe. Und was meine Person angeht, wäre klarzustellen: Ich bin nicht edel, ich bin alt.

Anne: Und ein bisschen aus der Welt gefallen. Ich mag Menschen wie Sie. Deshalb kann ich in Ihrem Fall auch nicht objektiv sein. Und nun denken Sie bitte alle darüber nach, welche Antworten die Wahrheit sind.

Berti: Wenn ich der wäre, für den Sie mich halten, hätte ich mich mit den neuen Medien auseinandergesetzt.

Anne (lächelt): Und längst den Laden renoviert. Aber den Ohrensessel dringelassen. Und eines ganz gewiss nicht getan: rosalila Schmachtlektüre gestapelt. (Sieht Ron an.) Sie werden sicher auch diese Informationen akribisch für die Nachwelt dokumentieren. Sie gehören nämlich zur Geschichte.

Ron: Sie wissen doch genau, dass ich das bestimmt nicht tun werde!

Anne (zuckt die Schultern).

Ron (verärgert): Wegen Irrelevanz des zugrundeliegenden Sachverhaltes habe ich die Chronistierungen gestern eingestellt!

Ad: Die was?

Anne (zu Ron): Es wird bloß nichts nützen. (Sie hebt lächelnd ihr Glas.) In diesem Sinne: Prost, meine Herren! Auf die Regie und den Thoni-Verlag, die uns heute hier zusammengeführt haben.

Alle heben ihr Glas.

Derry: Eine Frage noch?

Anne (nickt).

Derry: Was treibt Werner?

Anne: Ist in Reha.

Derry (entsetzt): Wie bitte?

Anne (schaut Ron an): Im Gegensatz zu q7 hat er den Herzinfarkt überlebt.

Derry: Wie kann ich ihn erreichen?

Anne (zuckt die Schultern): Sein Chef hat`s mir nicht verraten. Angeblich will er niemanden sehen. Aber ich glaube, er war nur zu taktvoll mir zu sagen, dass er mich nicht sehen will.

Ad: Wer ist Werner?

Anne (schaut Derry an): Ich sag dir mal was: Bücher lesen genügt auf die Dauer nicht. Wenn du nicht aufpasst, bist du der nächste. Ach ja, und noch was: Der Käsekuchen von Frau F. war nur Bestechung. Sie hofft immer noch auf den großen Durchbruch als Autorin. Und Sie, Herr Buchmann, sollten Ihrem Freund endlich beichten, was Sie schon lange vorhaben und heute Mittag konsequenterweise getan haben. Er ahnt es ohnehin. (Sie trinkt ihr Bier aus und steht auf.) Damit wäre alles gesagt, was es zu sagen gab. Einen schönen Abend noch, die Herren!

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