Donnerstag, 23. Februar 2012

Der letzte Arsch.

Aschermittwoch, 22. Februar 2012.
Der Verleger. Tagebucheintrag. (19)


Da schreibe ich jeden Tag ellenlange Abhandlungen und formuliere für den Chef geschliffenen Unsinn am Fließband, aber die zehn Zeilen Absagebrief an Frau Nachbarin haben mich mindestens zwei schlaflose Nächte gekostet. Ich hatte, noch unter dem Eindruck des Gelesenen, das Manuskript am kommenden Tag mit in Bertis Laden genommen, allerdings ohne ihm zu sagen, von wem es stammte. Berti brauchte für die Lektüre drei Tage und dann noch zwei Bier bei Willi. Er druckste herum, wie ich es sonst nicht von ihm kenne, fragte seltsame Dinge, so nach dem Motto, ob mir die Antwort sehr wichtig sei, und ob ich in einem besonderen Verhältnis zu dieser Autorin stehe. Endlich ging mir ein Licht auf, und ich lachte. „Keine Bange! Ein anonymer Verlag reicht mir! Und die schriftstellernde Dame steht mir nicht nahe, wenn Dir das hilft.“

Lächelnd gab Berti mir den braunen Umschlag zurück. „Die Geschichte hat durchaus Struktur, und sie ist, was Sprache und Stil angeht, auf einem guten Niveau. Aber leider hat die Autorin überhaupt kein Erzählpotential. Das ist kein Leben, sondern eine Lebensbeschreibung. Die Figuren handeln nicht, sie sinnieren, reflektieren, lamentieren. Und das in einer Weise, die sehr alltäglich und deshalb wenig originell ist.“ Er schaute mich mit seinem typischen Berti-Blick an und fügte hinzu: „Es mag zwar interessant und fesselnd sein, ins Seeleninnere eines anderen Menschen zu blicken, aber eben nur, wenn man das Original zum Vergleichen kennt. Ich bin mir sicher, dass das Interesse für diese Geschichte schon für Leser in Offenbach aufhören würde.“ Berti prostete mir zu. „Dein Problem ist, mein Lieber, dass du dich davor drückst, einen Absagebrief zu verfassen, stimmt’s? Aber das gehört nun mal zum Geschäft eines Verlegers. Besonders dann, wenn er gar keine Bücher verlegt.“

Ich prostete zurück und versuchte ein Grinsen. Das Bier schmeckte mir heute nicht. Berti hatte recht. Lebendig war die Geschichte für mich geworden, weil ich sie mit der lebenden Frau Friedemüller quasi unterfüttert hatte. Weil ich wissen wollte, warum sie war, wie sie war. Ich steckte den Umschlag weg. Wie brachte man einem Menschen bei, dass sein Schicksal zwar ein bedauernswertes, aber eben kein außergewöhnliches war? Dass Schriftsteller sein mehr bedeutete als das orthografisch korrekte Aufschreiben eines Sachverhaltes?

Zwei Nächte später hatte ich genau zehn Zeilen zuwegegebracht. Standardkram mit hoffentlich einer tröstenden Note. Ich rief Ad an und bat ihn um ein Blankoformular für Absagen, woraufhin er laut lachte und rief, ob ich es immer noch nicht kapiert hätte … „Das läuft alles online, Kumpel! Oder willst du unseren Verlag wegen exorbitanter Portokosten ruinieren?“ Er sagte tatsächlich: unser Verlag.

Ich bastelte mir notgedrungen einen Lektoratsabsagebrief mit Thoni-Logo, unterschrieb mit unleserlicher Unterschrift, steckte Brief und Manuskript in einen neuen Umschlag und warf ihn nach der Arbeit an der Hauptpost ein. Als ich nach Hause kam, putzte Frau Friedemüller trotz Eiseskälte die Hauseingangstreppe und rief mir ein freundliches „Guten Abend!“ zu. Ich rief zurück, dass ich heute vom Lektor die Nachricht bekommen habe, dass das Manuskript geprüft und mit einer Antwort alsbald zu rechnen sei. Frau Friedemüller strahlte mit frostroten Händen und ich fühlte mich wie der letzte Arsch.

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