Montag, 20. Februar 2012

Intimste Erlebnisse.

Mittwoch, 15. Februar 2012.
Der Verleger. Tagebucheintrag. (18)


Nein, die Sache geht mir nicht aus dem Kopf, weiß der Teufel, warum. Nachdem die Friedemüller entschwebt war, machte ich mir eine ordentliche Stulle und zapfte ein großes Glas … nein, kein Bier! Das trinke ich nur bei Willi. Meistens zumindest. Ich liebe den Geschmack von kühlem Leitungswasser – dazu ein frisches Brot, und schon geht`s mir prima! Manchmal habe ich den Verdacht, ich war in meinem vorangegangenen Leben Schwerverbrecher.
Ich stellte das Tablett auf den Wohnzimmertisch, schaltete den Fernseher ein, räumte Bertis Bücher und die Zeitungen weg: Tja, da lag er, der widerliche braune Umschlag. Ich dachte an die hartnäckigen Zusendungen des lieben Herrn Hundekötter, den ich wohl bis ans Lebensende nicht vergessen würde, und war auf allerhand gefasst. In der Tat: ein ordentliches Bündel Papier, aber im Gegensatz zum Hundekötterschen Opus ganz gut strukturiert und – soweit ich bei der ersten Durchsicht feststellen konnte – ohne größere orthografische Sünden verfasst. Sogar ein Exposé war beigefügt, das allerdings nur bedingt neugierig aufs Lesen machte. Autobiografischer Roman klingt nicht wirklich nach spannender Story, wenn die Protagonistin Friedemüller heißt und seit Jahren als nachbarschaftliche Nervensäge bekannt ist. Ich biss in meine Stulle und fing lustlos an zu lesen.

Als ich aufhörte, liefen im Fernsehen die Spätnachrichten, und was dazwischen gesendet worden war, hatte ich nicht mitbekommen. Dass diese langweilige Person so ein bewegendes Schicksal hatte, machte mich betroffen. Aber vielleicht war alles nur ausgedacht? Der Gedanke ging so schnell wie er kam. Ich fühlte, dass das ein ehrlicher Lebensbericht war, die Geschichte eines unglücklichen kleinen Mädchens, das noch immer nach der Geborgenheit und Liebe suchte, die es nie bekommen hatte. Weder vom Vater, noch vom Stiefvater, noch von ihren Ehemännern. Ich hatte nicht gewusst, dass sie schon zweimal verwitwet war; selbst ihren zweiten Mann hatten wir nicht mehr kennengelernt. Tja, und dann war ich am Ende des Blätterstapels und ratlos. Dass sie ihr Leben aufschrieb, na gut. Aber warum legte sie es in die Hand eines Menschen, den sie doch sicherlich genausowenig mochte wie er sie? Warum wollte sie unbedingt, dass ihre traurigsten, peinlichsten, intimsten Erlebnisse und Gedanken öffentlich wurden?

Ich steckte den Stapel Manuskriptblätter in den Umschlag zurück. Ad konnte ich das unmöglich geben. Ich dachte an Bertis Laden und versuchte mir vorzustellen, dass neben rosalila Schmachtpoesie und bluttriefenden Regiothrillern demnächst das zwischen Buchdeckel gequetschte Leben meiner Nachbarin stünde.

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