Freitag, 18. November 2011

Geheimnisvoller Umschlag.

Dienstag, 1. November 2011.
Der Verleger. Tagebucheintrag. (11)


Also, gestern habe ich das erste Mal in meinem Leben an eine Erscheinung geglaubt! Ich kam, wie meistens, recht spät von der Arbeit nach Hause, und kaum hatte ich die Schuhe ausgezogen, klingelte es. Draußen stand meine liebe Nachbarin, Frau Friedemüller, und ich überlegte, was ich wieder Missliches angestellt haben könnte, um ihr Erscheinen zu provozieren. Na ja, der Briefkasten konnte es nicht sein – seit Ad sich um die vermaledeiten braunen Umschläge kümmert, ist das tägliche Postaufkommen wieder aufs Normalmaß geschrumpft. Und Eier oder Mehl wollte sich die Gute sicher nicht bei mir borgen … Dann geschah das Unfassbare: Sie zog einen braunen Umschlag aus ihrer Tasche!

„Oh. Entschuldigen Sie bitte“, sagte ich bemüht zerknirscht, und Zorn auf den offenbar unfähigen Briefträger wallte in mir auf. Ich erwartete eine mittellange Predigt und mindestens einen Sack voll bitterböser Blicke. Weit gefehlt! Sie sah tatsächlich verlegen aus, fast sogar ein bisschen schuldbewusst! Tja, und dann sagte sie: „Ich muss mich wohl bei Ihnen entschuldigen. Ich wusste ja nicht, dass Sie Ihre knappe Freizeit so selbstlos für andere opfern. Wissen Sie, ich habe schon als Kind damit angefangen, und vielleicht …“

Noch während ich mir vorzustellen versuchte, dass diese Frau jemals ein Kind gewesen sein könnte, hielt sie mir den Umschlag hin. „Wenn Sie das wohl bitte an Ihr Lektorat weiterleiten könnten?“
Ich fühlte mich wie ein Torwart, der gerade ohne Vorwarnung den Ball mitten in die Visage gekriegt hat. „Äh, ja … Ich glaube … nicht … Woher wissen Sie, dass …?“ Ich hatte nicht den geringsten Plan, wie ich diese Stammelei zu Ende formulieren sollte, weil ich ja nicht wusste, was sie wusste und nichts Falsches sagen wollte, aber sie half mir dann aus der Bredouille, indem sie etwas tat, was sie noch niemals getan hatte, seit sie meine Nachbarin ist, zumindest nicht, wenn ich die Chance gehabt hätte, es irgendwie mitzukriegen: Sie lächelte!

„Sagen Sie bloß, Sie haben das Blättchen noch nicht gelesen?“
„Äh, nein. Warum?“
Da tätschelte sie mir doch tatsächlich den Arm! Also, langsam wünschte ich mir die gewohnte Frau Griesgram zurück. Das war erheblich weniger anstrengend. Doch von Griesgram keine Spur. Sie säuselte: „Seien Sie nicht so bescheiden, mein Lieber! Ihr Engagement ist vorbildlich! Da müssen Sie sich nun wirklich nicht verstecken!“ Sie drückte mir den Umschlag in die Hand. „Ich würde mich wirklich außerordentlich freuen, wenn Sie sich für mich verwenden könnten.“
Sie nickte mir zu und ging.

Wie gut, dass meine Ex den Garderobenspiegel mitgenommen hat. Ich hätte mein Gesicht nun wirklich nicht sehen wollen. Ich feuerte den Umschlag auf den Garderobenschrank (den hat sie mir dagelassen, er gefiel ihr ohnehin nicht), rannte ins Wohnzimmer, riss die Zeitung auseinander, blätterte zum Lokalteil - und dachte, mich trifft der Schlag: ein halbseitiges Interview mit dem neuen Lektor des Thoni-Verlags! Den Namen kannte ich nicht, und den Kerl auf dem dazugehörigen Foto hatte ich mein Lebtag noch nie gesehen!

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