Freitag, 30. September 2011

Wie der Witsch.

Freitag, 16. September 2011, früher Abend.
Der Verleger. Tagebucheintrag. (6)


Liebe Zeit! Ich war so sehr mit meinen Gedanken an Berti beschäftigt, dass ich den Chef erst in letzter Sekunde bemerkte. WAS SCHREIBEN SIE DA?

Zum Glück hatte ich mit einem Klick den Bericht auf dem Schirm, mit dem ich mich schon seit Tagen herumquäle. Den habe ich soeben fertiggestellt und rübergemailt, damit der Gute was zum Lesen hat. Ist nicht so erfreulich, das Ganze. Ich weiß jetzt schon, dass ich wieder mal die Kohlen für ihn aus dem Feuer holen muss. Berufszufriedenheit sieht anders aus. Na ja, das monatliche Schmerzensgeld reicht, um einen akzeptablen Lebensstandard aufrechtzuerhalten und meine Exfrau samt Kind zu finanzieren – ich will also nicht klagen. Und schon gar nicht über mich und mein langweiliges Leben schreiben.

Also, Büchermann Berti und Reklamemeister Ad an einem Tisch – das war Feuer auf Eis, und ich bekam das Schmelzwasser ab. Ich fühlte mich sozusagen wie der Witsch im Sandwich: plattgequetscht zwischen zwei pampigen Hälften, zum sofortigen Verzehr freigegeben. Gott, war ich froh, als Ad endlich sein Bier ausgenuckelt hatte und verschwand.

Wobei es mir fast lieber gewesen wäre, Berti wäre gegangen. Ich hoffe, du sagst mir jetzt nicht, dass du beabsichtigst, mit diesem Menschen künftig regelmäßigen und näheren Umgang zu pflegen.
Wenn ich das so hinschreibe, hört es sich hochnäsig, ja elitär an, doch das trifft es nicht. Es lag eher ein Hauch Bedauern in Bertis Stimme, ein bisschen Cäsar bei der Ermordung durch Brutus. Das Merkwürdige an Berti ist, dass er einerseits durch seinen Habitus zwar Ehrerbietung produziert, andererseits aber das ist, was man gemeinhin: ein feiner Herr! zu nennen pflegt. Das drückt sich in seiner Sprache aus, im Umgang mit anderen, in seinem ganzen Auftreten. Er ist aber nicht nur ein kultivierter Mann, sondern hat auch Herz. Das wiederum hört sich kitschig an, und Berti würde sicher etwas Passenderes einfallen, wenn er jemanden wie sich beschreiben müsste. Wenn er allerdings mein Geschreibsel läse, würde er wohl ziemlich ironisch werden.

Ja, ich gebe es zu: Ich bewundere Bertis Art zu sprechen. Aber nicht, weil er sich besonders ausgefallen ausdrückte, oder andere durch Sarkasmus oder Stimmdezibel zu Mickergestalten werden ließe, wie es etwa mein Deutschlehrer zu tun pflegte, der mir regelmäßig das Gefühl gab, der mit Abstand dümmste Mensch im Universum zu sein.

Berti spricht eine Sprache, die verständlich und unmissverständlich zugleich ist. Obwohl er ja viel länger in Frankfurt lebt als ich, sagt er immer: nicht, und niemals: net. Er artikuliert sich grundsätzlich in Sätzen, die nach dem dritten Komma noch Sinn ergeben. Er macht an den richtigen Stellen die Pausen, und er kann Fragezeichen und Ausrufezeichen setzen, ohne die Stimme zu heben. Diese Art zu sprechen ist im Aussterben begriffen; die einzige Gruppe von Menschen, in der ich sie noch gehäuft finde, ist die der Älteren. Selbst wenn sie keine studierten Leute sind wie Berti, wissen sie sich gewählt auszudrücken, sie verschlucken weder Buchstaben noch Satzenden. Ich gebe zu, dass mir das früher nicht aufgefallen ist, etwa so, wie man die Spatzen im Garten erst dann wahrnimmt, wenn ihr Gezwitscher plötzlich fehlt. Und mit der sauber formulierten Sprache scheint offenbar auch der Wille verloren zu gehen, strukturiert nachzudenken und interessiert zuzuhören.

Vorgestern schaute ich abends mal wieder eine dieser Talkshows. Es ging darum, ob wir in unserer Gesellschaft die „alten Tugenden“ noch brauchen oder nicht. Einer der Gäste war ein älterer Herr. Er hat mich an Berti erinnert und sehr kluge Dinge gesagt, vielmehr: Er hat es versucht. Zum Beispiel hat er versucht, den Unterschied zwischen Freude und Spaß zu erklären. Ich fand das sehr interessant, aber der Talkmaster hat ihm jede Denkpause und jede Sprachpirouette gnadenlos wegmoderiert.
Was erwartest du, Kumpel?, höre ich Ad sagen. Eine Talkshow ist kein Parlamentsausschuss, sondern viel Show mit ´nem bisschen Talk zur Belustigung der Leute. Mag sein, aber es nervt. Und ich hätte zu gern den Unterschied gewusst zwischen Spaß und Freude. Vielleicht frage ich beim nächsten Bier mal Berti.

Wenn ich mit Berti spreche, fühle ich mich einfach wohl. Weil er mir, von seltenen Ausnahmen abgesehen, weder das Gefühl gibt, ihm intellektuell unterlegen zu sein (obwohl ich das bin!), noch mich für irgendwas rechtfertigen oder irgendwie positionieren zu müssen. Durch Berti habe ich gelernt, was das heißt: eine gute Unterhaltung zu führen. Man spricht über Gott und die Welt und hat hinterher sämtliche Batterien aufgeladen. Leider kommt es immer häufiger vor, dass ich mich nach Gesprächen so fühle, als hätte mein Gegenüber nicht nur meine Batterie samt Säure leergesaugt, sondern auch noch den Stecker vom Aufladegerät abgeschnitten.

Tja, und der Abend mit Berti und Ad war einer dieser seltenen Fälle, in denen ich wünschte, Berti wäre NICHT dagewesen. Und hätte diesen Satz über Ad NICHT gesagt. Ich fühlte mich bemüßigt, jemanden zu verteidigen, den ich gar nicht verteidigen wollte, und das machte mich wütend. Auf Berti, auf Ad, auf mich selbst. Klar, Ad ist ein Schaumschläger und Schwätzer. Aber er hat mir immerhin für nix seine Hilfe angeboten. Und damit auch Berti.

„Doch mein Lieber“, entgegnete ich ihm. „Genau das beabsichtige ich zu tun: mit diesem Menschen demnächst näheren Umgang zu pflegen. Und zwar nicht, weil es mir gefiele, sondern für dich und deine unmoderne Buchhandlung.“ Als Berti ansetzte, etwas zu sagen, fügte ich hinzu: „Du stapelst rosaviolette Liebesschmonzetten und trinkst zu viel Whisky, und ich rede mit Werbefuzzis beim Bier über Facebook. Wir sind quitt, oder?“

Berti schaut mich an. Ernstfreundlich. Nickt. Bestellt noch zwei Bier. Willi staunt, ich staune. Und exakt drei Minuten später bin ich wieder der zehnjährige Bengel, der nach Perry Rhodan fragt.
Berti hebt das Glas. „Prost, mein Junge! Den Foulelfmeter hast du bravourös verwandelt.“

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