Ein bisschen Berti fürs Morgen.
R: Welche Bedeutung hat die Geschichte des Thoni-Verlags für Sie?
E: Die Frage kommt zu früh, mein Lieber. Ich habe, wie erwähnt, einen Hauptberuf und neben dem Schreiben sehr viele andere Interessen. Ich musste dieses Bühnenstück nicht zwingend aufführen, und ich konnte es wegen anderweitiger Engagements auch nicht regelmäßig im Programm haben. Das führte zu unregelmäßigen Spieltagen, wenn man so will. Und es half, mit den Akteuren zwar ein bisschen bissig, aber nicht böse umzugehen. Ich betrachte DAS ENSEMBLE mit einem Augenzwinkern.
R: Das Stück ist eigentlich gar keine Verlagsgeschichte, sondern eine Hommage an Bücher, ans Lesen. Bevorzugt in ollen Ohrensesseln, wenn ich mal so frei formulieren darf. Wem Ihre uneingeschränkte Sympathie gilt, ist jedenfalls nicht schwer zu erraten.
E: Ja, den alten Buchhändler Berti mag ich. Aber ausgerechnet er spielt auf der Bühne nicht mit, er ist eine Erinnerung, eine Sehnsucht. Berti verkörpert das Gefühl, das man spürt, wenn man einen Duft aus der Kindheit riecht, wenn man etwas isst, das früher die Oma gekocht hat, eine Gegend nach langen Jahren wiedersieht, in der man als Kind glücklich war. Berti ist die Vergangenheit. Deshalb schließt er folgerichtig am Ende der Geschichte seinen Laden.
R: Sie hätten die Macht gehabt, es anders ausgehen zu lassen.
E: Es ist der Gang der Dinge. Wobei ich mir wünschen würde, dass ein bisschen Berti in uns allen überlebt. Für diese Hoffnung steht der Verleger.
R: Welches bisschen?
E: Es gibt eine Passage im Tagebuch des Verlegers, in der er das Besondere an Bertis Art zu sprechen beschreibt: dass ältere Menschen, selbst solche, die nicht studiert haben, über eine ausgefeilte, schöne Sprache verfügen. Sie können sich im wahrsten Sinne des Wortes bedacht ausdrücken. Diese Bedachtsamkeit geht zunehmend verloren. Es wird geplappert, parliert und definiert, aber nicht mehr wirklich gesprochen. Man denkt nicht, sondern talkt oder tippt. Insofern hat sich die Befürchtung der frühen PC-Kritiker unter den Autoren bewahrheitet: Dass Texte zunehmend geschwätzig werden, sobald die Möglichkeit besteht, sie ohne jede Mühe unmittelbar am Bildschirm zu korrigieren. Wer noch in der Zeit der mechanischen Schreibmaschinen und mit Tipp-Ex aufgewachsen ist, wird wissen, was ich meine.
R: Noch mal zurück zu Berti. Warum ist ausgerechnet Ihr Lieblingsprotagonist kein Spieler auf Ihrer Bühne? Und was tut er dann überhaupt, wenn er nicht mitspielt?
E: Vielleicht habe ich es nicht richtig ausgedrückt. Berti steht hinter dem Vorhang und traut sich nicht raus.
R: Er ist also doch mehr als bloße Erinnerung.
E: Er sammelt das Leben. Natürlich sind das in erster Linie Erinnerungen. Ein Kind lebt vorwiegend im Jetzt. Es macht sich keine Gedanken über das Morgen, was strebsame Eltern naturgemäß verzweifeln lässt. Aber es ist eine ziemlich gesunde Art zu leben, und Erwachsene, die in ihrem Hamsterrad der Was-Wäre-Wenn-Welt gefangen sind, versuchen mit hohem Aufwand, dieses Gefühl wieder zu erleben. Indem sie teure Urlaubsreisen machen, meditieren, Achtsamkeit lernen. Sich fragen, warum sie sich zunehmend geburnout fühlen. Für junge Erwachsene ist Berti kein Mensch, den zu besuchen sich lohnte. Wenn man zwischen Kindheit und Erwachsen-Sein steht, möchte man mit allen Mitteln weg vom Muff der kleinen Läden, raus in die große Welt, ins pulsierende Leben, online gehen. Wenn der Rausch des Neuen vorbei ist, wird man feststellen, dass die große weite Welt in Wahrheit aus lauter kleinen Puzzleteilen zusammengesetzt ist, die womöglich spießiger sind als der kleinste Laden es je hätte sein können, und man sehnt sich zurück. Die Sinnesorgane unterstützen das … ein Geruch, eine Stimme, ein Gefühl, schon ist die Erinnerung da: an vorgeblich glückliche Kindertage, Geborgenheit, Heimat. Manche mögen sich das nicht eingestehen, für andere ist es die scheinbare Lösung all ihrer Probleme. Bei denen ist Berti ein sehr präsenter Akteur auf ihrer Bühne – und sie merken nicht, dass die Zuschauer immer weniger werden. Bei den anderen ist Berti im Keller unter der Bühne eingesperrt und hat nicht nur Auftritts-, sondern auch Präsenzverbot. Diese Sentimentalitäten verbitte ich mir!, würde Ad beim Kneipengespräch sagen. Und: Bleib mir vom Hals mit deinem verstaubten Buchladen! Du bist von gestern und vergessen.
Aber ich glaube, die weitaus meisten Menschen fühlen, dass Berti da ist und sie bedauern insgeheim, dass sie ihn nur so selten bitten, hinter dem Vorhang hervorzukommen. Dass sie keine Zeit mehr haben, auf ein Pläuschchen zu ihm in den Laden zu gehen und sich mit einer dicken Schwarte in den saugemütlichen Ohrensessel zu lümmeln. Diese Menschen wissen, dass Bertis Laden nicht zu retten ist, selbst beim besten Willen sämtlicher Lisa-Liesmichs dieser Welt nicht. Und wenn es bloß daran scheitert, dass gar nicht genug Leser in der Gegend wohnen, die ihn unterstützen könnten. Na ja, und wenn sie kämen, würden sie es aus moralischer Verpflichtung tun, aber nicht, weil sie in seinem Buchladen wirklich gut bedient werden würden. Bertis Existenz ist für sie schmerzhaft: Weil sie zeigt, dass Dinge, die ihnen einmal wichtig waren, aus der Mode gekommen sind. Und dass sie selbst älter werden und die Jugend nicht zurückzuholen ist. Genauso wie die Zeit der Postkutschen nicht zurückzuholen ist. Oder die der Schreibmaschine.
R: Der Verleger glaubt daran.
E: Ja, aber er belässt es nicht beim Dranglauben. Was er tut, ist meiner Meinung nach die einzige Möglichkeit, Berti am Leben zu erhalten: Den Laden kann er nicht retten, aber die Idee, die dahinter steht, vielleicht in die Gegenwart tragen, in der die Menschen nun mal leben. Und dazu muss er sich der Werkzeuge bedienen, die in die Jetztzeit gehören und nicht mehr die Wiese mit der Sense mähen.
R: Das heißt konkret?
E: Er muss akzeptieren, dass auch Ad ein Teil dieser Welt ist. Und einen vernünftigen Kompromiss finden, dass Berti damit leben kann.
R: Glauben Sie, dass Derry das gelungen ist?
E: Na also! Wofür hat er denn sonst den Thoni-Verlag gegründet? Andererseits: Womöglich ist tatsächlich für Berti kein Platz mehr auf der großen Bühne? Die Intention eines Autors zu verstehen, ist eine nachträgliche Legitimierung der Freude am Lesen. Aber sie kann die Freude nicht erzeugen. Insofern war das nicht relevant fürs Erzählen.
R. Und wo liegt die Intention dieser Aussage?
E: Die Dinge kann man nicht ändern, nur die Sicht darauf. Wie heißt es so schön in einem Sprichwort? Ein Kompromiss ist, wenn man einen Kuchen teilt und jeder glaubt, das größte Stück bekommen zu haben. Ich kann eine Geschichte erzählen, aber andere entscheiden, ob sie irgendeine Relevanz für sie hat. Nur dann ist Öffentlichkeit möglich und nötig. Autoren existieren also allein durch die Aufmerksamkeit und die Bedeutung, die ihre Leser ihnen schenken. Lesende, die Meinungsmacht haben, können die Bedeutung von Autoren erhöhen: Kritiker, Journalisten. Leser, die keine Meinungsmacht haben, also solche wie Lisa Liesmich, haben Massen-Macht, indem Abertausende Lisas dieser Welt ein bestimmtes Buch kaufen und den Autor damit in die Bestsellerlisten schießen.
R: Manchmal wirken Meinungsmacht und Massen-Macht zusammen.
E: Im optimalen Fall bedingt die erste Voraussetzung die zweite, und alle sind glücklich: Autor, Verleger, Sortimenter, Leser. Und Berti strahlt beim Bücher stapeln.