Sonntag, 7. Oktober 2012

Daten zum Schreibprojekt "Der Verlag ohne Bücher"


Nikola Hahn
Thoni - der Verlag ohne Bücher

Ein interaktives Schreibprojekt.



 Idee
Die zentrale Intention für dieses Non-Profit-Projekt, das die Schriftstellerin Nikola Hahn insgesamt ein Jahr lang anonym sowie unter den Pseudonymen Der Verleger/Derry Verleger im Internet führte war es, die Umwälzungen in der Welt der „Büchermacher“ erzählerisch in ebenjenem Medium aufzuarbeiten, das für diese Veränderungen maßgeblich verantwortlich zeichnet.

   
Verlauf
7. September 2011
Nikola Hahn eröffnet unter den Pseudonymen „Der Verleger“ und „Derry Verleger“ auf blogspot, blog.de und facebook das interaktive Schreibprojekt „Thoni - der Verlag ohne Bücher“.
 
1. April 2012
Ende des erzählenden Teils von „Thoni - der Verlag ohne Bücher“.
 
1. August 2012
Offizielles Gründungsdatum des „realen“ Thoni Verlags. 
 
17. August 2012
Eintrag des Verlags beim Gewerbeamt.
 
30. September 2012
Abschluss des Projekts mit einer fiktiven Interviewreihe.
 
Oktober 2012
Der Thoni Verlag geht online und startet mit einem ersten Verlagsprogramm.

Übernahme der Facebook Accounts von Derry Verleger (www.facebook.com/derry.verleger) und der Facebook-Seite www.facebook.com/thoni-verlag. Außerdem zeichnet der Verlag für die aus dem Schreibprojekt stammenden Blogs www.thoni-verlag.blogspot.de und (inhaltsgleich) www.thoni-verlag.blog.de verantwortlich.

 
Thoni Verlag - Bücher & Kunst von Nikola Hahn
www.thoni-verlag.com

Lesetipp: Chronologisches Lesen geht hier rückwärts - also am Ende (im Blog-Archiv 2011/September/1. Text von unten, Verlagsgründung ) beginnen und sich dann nach oben vorarbeiten ...

Infos zum Thoni-Projekt (und das Schlussinterview in der chronologischen Reihenfolge als Download) gibt es auch auf der Seite des realen Thoni-Verlags: www.thoni-verlag.eu/thoni-der-verrückte-verlag/

Sonntag, 30. September 2012

Aus die Maus.

Schlussbemerkung des Chronisten:

Der Eintrag des Thoni-Verlags erfolgte am Vormittag des 17. August 2012, rückwirkend zum 1.8., beim Gewerbeamt der Stadt Rödermark.




Die Facebook-Party.


Der Vorteil virtueller Wirklichkeit ist, dass sie nicht wirklich verschwindet. Hier also der leergefutterte Häppchenteller, gesammelt und rübergereicht von einem wackeligen Stehtisch aus dem Facebook account des Verlags ohne Bücher. Die Party musste leider am 30. September enden, weil ab Oktober das wahre Leben zuschlagen wird. Aber erst mal was für den Magen:
 

Häppchen. (1)
Diese Geschichte ist ein Kind ihrer Zeit. Sie konnte so nur im Netz erzählt werden, und zugegebenermaßen hätte sie auch ganz anders ausgehen können. Weil sie im Netz erzählt wurde, hat der Erzähler die Macht über sie verloren. Er mag sie beenden, aber sie wird niemals ganz sicher zu Ende sein, sie wird sich womöglich verändern, Teile werden verloren gehen, Links nicht mehr funktionieren. Meinungen werden dazukommen, Kommentare. Vielleicht.
 
Häppchen. (2)
Vielleicht auch nicht, weil die Netzgemeinde sich Rons Meinung anschließt, dass diese Geschichte ganz und gar banal ist und weder ein Verlinken verdient noch das Liken lohnt. Vielleicht verdient sie es tatsächlich nicht, denn sie ist ein Konstrukt, um die Hilflosigkeit darüber auszudrücken, dass Dinge wie zu allen Zeiten auch in der unsrigen im Fluss sind.

Häppchen. (3)
Hier und da wird  Werbung das Lesen in Zukunft nicht nur erschweren, sondern konterkarieren. Weil das Lesen ja gratis und deshalb immer öfter auch umsonst sein wird. Es hat im wahrsten Sinne des Wortes keinen Wert mehr.

Häppchen. (4)
Wenn die Verantwortlichen bei Google und Facebook wieder mal meinen, das Layout oder die Bedingungen der Teilnahme ändern zu müssen, wird das Erzählte einmal mehr in fremdbestimmtem Gewande erscheinen. Oder gar nicht mehr. Vielleicht wird der unerschütterliche Henning Hundekötter daraus irgendwann in seinem Lebenswerk zitieren, ohne die Quelle zu nennen, weil das ja auch peinlich werden könnte. Vielleicht wird Tante Erna ein schlechtes eBook bei amazon daraus machen, und wenn es der Erzähler nicht mitkriegt, dann wird nichts geschehen, außer, dass sich Mutti im Seniorenheim auf ihrem Reader in XXL noch köstlicher amüsiert. Wer wollte Mutti das verübeln?

Häppchen. (5)
Die Geschichte des Thoni-Verlags hat der Erzähler nicht allein erfunden, die Gentlemen Copy und Paste haben es ihm leicht gemacht, fremde Gedanken nicht neu zu denken, sondern sie einfach an passender Stelle zwischen seine eigenen Gedanken einzupflanzen. Zur Gewissensberuhigung hat er die Fundstelle dazu gesetzt, und gut. Womöglich wird irgendwer irgendwann es nicht so genau nehmen und die Quellenangaben weglassen, und kein Mensch wird mehr nachvollziehen können, wer was von dieser Geschichte tatsächlich einst erfunden hat, was wahr ist, was erdacht, warum sie erzählt wurde, und warum sie auf diese Art erzählt wurde. Das Erzählte wird herrenlos werden. Oder vergessen. Bis es vielleicht dann doch irgendwann jemand wiederentdeckt und in einer Weise dokumentiert, so wie man heutzutage die Klassiker orthografisch anpasst und neu editiert.

Häppchen. (6)
Vielleicht wird diese Geschichte eines Tages aber auch in einem Format erzählt werden, von dem der Erzähler noch nichts ahnt. Aber halt: hatten wir das alles nicht schon einmal? Die Erfindung eines neuen Mediums, das Gesagtes zu konservieren wusste, damit es erhalten blieb für die Nachgeborenen?

Häppchen. (7)
Einst war es die Schrift, waren es Bilder und Bücher, die dieses Wunder vollbrachten: Flüchtiges durch die Zeiten zu bewahren und es gleichzeitig so lebendig zu halten, dass wir heute noch die Weisheit eines Platon verstehen, Shakespeares Dramen nachfühlen, die Poesie und Wortkunst von Goethe und Schiller wertschätzen, über Wilhelm Buschs liebevoll skizzierte Alltagsbosheiten schmunzeln können.

Häppchen. (8)
Wir wollten modern sein, dabei haben wir nichts anderes getan, als uns wieder ums Lagerfeuer zu versammeln. Nur dass das moderne Lagerfeuer einen Stecker hat. Und der Erzähler eine Tastatur. Der Unterschied zur Steinzeit ist: Die Hörer haben auch eine. Jeder eine eigene, ganz für sich. Und weil niemand den anderen sieht, reden sie alle drauflos, die einen hören auf, Erzähler zu sein, weil sie ins Nichts reden, die anderen hören auf Hörer zu sein und werden selbst zu Erzählern. Sie unterbrechen, sie belehren, beleidigen, dozieren. Jeder plappert ungefragt hinein in die Geschichten der anderen, sagt ihnen, was er für richtig und für wichtig hält, ohne den Verlauf oder gar das Ende zu kennen oder überhaupt auch nur kennen zu wollen.

Häppchen. (9)
Geschichten leben durch ihre Hörer und Leser. Wir sind alle zu hektischen Erzählern unseres Selbst geworden, wir sind nicht still, wir schreien, um endlich gehört zu werden. Was entsteht, sind keine Geschichten sondern Bruchstücke, Fetzen. Am Lagerfeuer wären wir aufgestanden und gegangen. Geschichten, die keiner hören mag, bleiben laute Gedanken, die lautlos verwehen.

Häppchen. (10)
Erzähler erweisen Hörern und Lesern Respekt, indem sie gute Geschichten erzählen.
Hörer und Leser erweisen Erzählern Respekt, indem sie gute Geschichten schätzen.

Häppchen. (11)
Wir sind nicht fortgeschritten, wir sind zurückgegangen. Der Zauber erzählter Geschichten verpufft, weil jeder allein vor seinem virtuellen Lagerfeuer sitzt und sein eigenes Süppchen kocht. Vielleicht soll es so sein. Vielleicht ist es der unvermeidliche Gang der Dinge. Vielleicht ist es das, was die Netzgemeinde will? Dass das Erzählen endlich aufhört.  

Häppchen. (12)
Wenn, wie es ja vorkommt, die Mehrheit nicht die Lauten, sondern die Stillen sind, wenn sie den Zauber des Erzählens bewahren wollen: Dann dürfen sie das Feld nicht den Schreiern überlassen.

Häppchen. (13)
Nur die Stillen können die gemeinsame Feuerstelle wieder (er)finden. Um sich in der Kunst zu üben, wirkliche Geschichte zu erzählen. Um sich darin zu üben, wirklich zuzuhören. Die Rollen können wechseln, aber nicht beliebig werden, denn Geschichtenerzählen ist Profession, die erfordert, was alle Berufe erfordern: handwerkliches Können, Erfahrung, Reifung, Leidenschaft.

Häppchen. (14)
Um gute Geschichten zu erzählen, braucht es aber nicht nur Handwerk, Fantasie und Talent, sondern vor allem Zeit. Sie zu haben, ist Luxus heutzutage. Lesen und Zuhören auch. Gönnen wir uns diesen Luxus. Er kostet nichts und ist auf keinen Fall umsonst. 

Vorletztes Häppchen. (15)
Wenn die Menschen aufhören, Geschichten als Wegwerfware, Fastfood oder Schnäppchen zu produzieren und zu konsumieren, wird es keine Rolle spielen, ob sie auf Papier gedruckt oder elektronisch daherkommen. 

Letztes Häppchen. (16)
Das Buch der Moderne kann womöglich ohne Papier auskommen. Ohne Erzähler nicht.

  
 

Die Party ist aus.
Hoffen wir, dass die Gäste nicht alles verschlafen.
Und ohne Kater aufwachen.
 
Was überhaupt gefeiert wurde?
Dass der Erzähler eine Erfinderin ist.
Die Gründung des Thoni Verlags.
Anno 2012.

Willkommen im Leben.

Die Erfinderin. Das Interview. TEIL 6

Wie man sich gut schlägt und einen Verlag gründet.


R: Sie haben anfangs erwähnt, dass sie auch als reale Person im Netz aktiv sind. Warum haben Sie das Projekt Thoni-Verlag nicht einfach als tägliche Fortsetzung in Ihren Blog gestellt?

E: Es war mir wichtig, diese Geschichte nicht nur aus verschiedenen Blickwinkeln zu erzählen, sondern sie auch neutral beim Leser ankommen zu lassen. Das hätte nicht hingehauen, wenn ich sie unter meinem Autorennamen erzählt hätte. Noch dazu als eine Autorin, die gerade dabei ist sich neu zu definieren. Die Intention, diese Geschichte überhaupt zu erzählen, besteht allerdings unabhängig von einer Namensnennung: Ich glaube, dass sich zwar nicht alles, aber vieles in der Bücherwelt ändern wird. Ob ich das im Einzelnen gut oder schlecht finde, mag dahingestellt bleiben. Aber es reizte mich, all diese Eindrücke, Ängste, Gedanken und neuen Ideen nicht nur zu berichten, sondern sie erzählend aufzuarbeiten. Verleger, Lektor, Autor, Buchhändler, Leser: ich wollte sie lebendig werden lassen, indem ich ihnen Gesichter und Namen gab. Und was lag näher, als das in dem Medium zu tun, das diese Ängste und Sorgen und neuen Ideen hervorruft? Schon heute haben viele Menschen ein Problem damit, einen längeren Text zu lesen. Insbesondere Jüngere bevorzugen das Lesen am PC, oder per eBook. Und nebenbei sehen sie fern, telefonieren und lesen garantiert nicht die Tageszeitung. Wenn ich aber die neuen Medien – und die damit einhergehenden Kommunikationsgewohnheiten – erzählerisch umsetzen will, hilft es wenig, nur den Inhalt anzupassen. Ich muss mir auch über die Struktur Gedanken machen. 

R: Inwiefern?

E: Ein Roman, auf Papier in einem Buch gedruckt, ist eine Einheit, deren Anfang und Ende bei allen Vorgaben immer noch der Autor bestimmt. Und das Kleid zieht der Verlag dem Kind an: Cover, Titel, Schrift, Layout. Die Geschichte kommt in die Läden wie diejenigen, die am Herstellungsprozess beteiligt waren, es festgelegt haben. Der Leser kauft diese Geschichte, und sie gefällt ihm – oder auch nicht. Wenn man es brutal formulieren wollte: Eigentlich könnte es den Autoren, Verlagen und Buchhändlern schnurz sein, ob der Inhalt dem Leser gefällt: Wenn Bücherwürmin Lisa Liesmich den neuen Roman von Annabelle Chanson gekauft hat, sind alle bedient. Auch wenn Lisa ihn nach dem zweiten Kapitel in den Müll wirft, weil sie vor Langeweile Migräne bekommt. Natürlich wird sie sich überlegen, ob sie sich das nächste Werk noch antut. Vielleicht erwirbt sie es nur als Taschenbuch oder gleich als eBook. Aber auch in diesen Fällen ist der Inhalt vorgegeben, sie kauft ihn oder lässt es bleiben. Im Netz ist alles im Fluss. Es wird in Häppchen gelesen, kommentiert, geliked und verlinkt. Das muss man beim Erzählen berücksichtigen, ohne das Eigentliche aus den Augen zu verlieren.

R: Das da wäre?

E: Ich habe die altmodische Auffassung, dass es die vornehmste Aufgabe eines Schriftstellers ist, dem Leser eine gute Geschichte zu liefern. Und eine gute Geschichte muss komponiert werden. Auch im Netz. Selbst wenn sie vordergründig aus dem Augenblick heraus erzählt wird wie die vom Thoni-Verlag, muss sie doch innerhalb eines Rahmens angesiedelt sein, in dem zwar spontanes Handeln und unvorhergesehene Wendungen zugelassen und erwünscht sind, aber nichts, das den Leser aus der Bahn wirft: Die Figuren müssen in ihrem Handeln überzeugend und plausibel sein, die Geschichte muss einen „Aha-Effekt“ haben, der den Lesern am Ende das Gefühl gibt: eine spannende, eine intensive, auf jeden Fall aber eine lohnenswerte Geschichte gelesen zu haben.

R: Wie sind Sie konkret vorgegangen? 

E: Ich habe die Texte für die tägliche Veröffentlichung vorgeschrieben und vor der Veröffentlichung mehrfach korrigiert. Und recht bald gemerkt, dass ich neben dem Chronisten noch andere Helfer brauchte, um den Überblick nicht zu verlieren. Allein die Disziplin, bestimmte Beiträge unter wiederkehrenden Labels oder Tags anzulegen, erforderte einigen organisatorischen Aufwand. Ebenso die einheitliche Gestaltung der Überschriften, damit sich der Leser besser zurechtfindet. Bis sich das alles eingeschliffen hatte, dauerte es eine Weile.
Trotzdem unterliefen mir Fehler, weil ich mir nicht alle Informationen merken konnte, die ich bereits verarbeitet hatte. Hinzu kam, dass die Veröffentlichungen ja meinem tatsächlich schon vorgeschriebenen Text und somit dem Fortgang der Geschichte hinterherhinkten … ich hatte also im Kopf viel mehr Infos als die Leser bei Facebook oder im Blog. Ein Beispiel: In einem Tagebucheintrag lasse ich den Verleger Berti charakterisieren und schreibe, dass selbst Willi, der Wirt, ihn mit Herr Buchmann anspricht. Aber in meinen ersten Kneipengesprächen mit dem Verleger und Ad lasse ich Willi den Satz sagen: Und wo hast du Berti gelassen? Ich habe das dann geändert in: Wo hast du denn deinen Herrn Buchmann gelassen? Das passt zwar von der Sprachmelodie nicht wirklich zu Willi, den ich eher derb in Szene gesetzt habe, aber immerhin ist es besser als die Erstversion.

R: Was hat Sie am Erzählen im Netz besonders gereizt?

E: Dass ich das Social Web nicht nur für die Verlinkung meiner Blogs, sondern als Teil der Geschichte nutzen konnte. So wurden beispielsweise Postings der „Thoni-Fans“ und „Derry-Freunde“ sowie „Gefällt mirs“, die Derry in meinem Auftrag drückte, Teil der Geschichte. Ein anderes Beispiel ist die Möglichkeit, aktuelle Artikel und Kommentare einzubinden: Berti und der Verleger sprechen über Bücher und die Probleme im modernen Buchhandel, und ich verlinke dazu einen Bericht aus dem Börsenblatt. Da stirbt ein hoch angesehener Verleger (Herr Keel von Diogenes), der genau diesen alten Verlegertypus verkörpert, den es heute immer weniger gibt, und im dazugehörigen Artikel steht ein Satz, den ich mir für meine Geschichte nicht besser hätte ausdenken können: Er tat das, was er tat, mit Freude. Das machte seinen Erfolg aus. In einem Buch kann man solche „Lebenssätze“ als Intro vor die Kapitel stellen und im Anhang ein Quellenverzeichnis anführen, bei Facebook wird der Artikel samt Quelle auf der Seite geteilt und somit unmittelbar in die Geschichte integriert. Dieses Verlinken, Posten, Gefallen und Seiten-Hopping wird ruck zuck so unübersichtlich, dass es selbst einem gutwilligen Protokollanten nicht mehr möglich ist, alles getreu zu dokumentieren. Wobei man ehrlicherweise sagen muss, dass auch nicht alles dokumentationswürdig ist. Nur: Wer entscheidet darüber? Und welche Kompetenz muss jemand haben, der entscheidet? Und wo muss man ihm Grenzen setzen?
Indem ich Derry auf der Seite des Börsenblatts oder bei Spiegel-online kommentieren ließ, verwischten sich die Grenze zwischen Fiktion und Realität. Wenn dann, was mehrfach vorkam, kurz darauf eine Mail an Derry eintrifft, dass man seine Kommentare gern auch in der Printausgabe veröffentlichen würde, ist die Grenze überschritten: Die Fiktion ist zur Realität geworden. Aber damit ist sie weder wahr noch wahrhaftig.

R: Auf diese Gefahr wollten Sie mit Ihrer Geschichte aufmerksam machen?  

E: Im Gegensatz zu q1 hat q7 bei aller Unprofessionalität diese Grenze respektiert und persönliche Daten anonymisiert. Es geht in der Tat niemanden außerhalb von Facebook etwas an, was Herr X oder Frau Y posten, und sei der Inhalt noch so banal. Der etwas einfältig scheinende q7 hatte im Übrigen als einziger Protagonist die Möglichkeit, den Fall Thoni vorzeitig zu beenden - und mich zu outen, indem er das einzig Richtige tat: Netzinformationen mit dem realen Leben abzugleichen, vom virtuellen in den realen Raum zurückzukehren, Dinge und Daten kritisch zu hinterfragen. Da hatte jemand Bilder gesehen … in einem Buch, nicht im Netz. Ich bin mir sicher: q7 hätte noch mehr herausgefunden, hätte der Chronist ihn nicht leichtfertig abgeschossen. Natürlich steckt da eine Message drin!

R: Können Sie das etwas näher erklären? 

E: Wer im Netz unterwegs ist, charakterisiert sich durch Fotos, aber auch durch seine Posts. Wer schreibt: Wow! Echt geiles Bild, oder: Ups, das ist ja super witzig!, dem traut man im realen Leben nun mal keinen Managementposten in den oberen Etagen zu. Den sieht man in zerrupften Jeans und schweißigem Hemd rauchend vorm PC sitzen, auch wenn das vielleicht gar nicht stimmt. Die Mechanismen, die früher halfen, Dinge und Menschen zu klassifizieren, lösen sich im Netz auf. Und das macht es zunehmend schwer, sich Urteile zu bilden, die über Vorurteile hinausgehen. Und das, obwohl die Zahl der Informationen ständig steigt. Ein Widerspruch? Nur auf den ersten Blick. Es ist eine notwendige Folge des Mediums, das großteils davon lebt, dass unablässig gebrabbelt und gepostet wird. Und doch ist soziales Netzwerken mehr als geistloses Geplauder. Es schafft einen Informationspool, und es lässt – und damit komme ich auf meine Rolle als Schriftstellerin zurück – Raum für die kreative Gestaltung (m)einer Geschichte: Warum nicht Derry mal einen Dialog mit sich selbst führen lassen? Den Leser glauben machen, dass sich da einer (mindestens einer!) ungefragt im Account breitmacht? Was ja durchaus schon vorgekommen ist. Letztlich geht es um die uralte Frage: Was ist Schein, was ist Sein? Was ist die Wirklichkeit und was die Wahrheit?

R: Eine Geschichte auf diese Weise zu erzählen, vor allem, die vielen Fäden im Auge zu behalten: War das nicht ziemlich zeitraubend für ein Non-Profit-Projekt?


E: Ich hatte von Anfang an vorgesehen, es einige Zeit zu führen, zu schauen, wohin es führt und es dann zu beschließen. Ich fand, dass der 1. April ein guter Tag wäre, zum Ende zu kommen. Mit Ach und Krach und einigen Nachtschichten habe ich es tatsächlich hinbekommen.

R: Warum war Ihnen das so wichtig?

E: Ich wollte statt „The End“ unbedingt April, April! rufen. Außerdem hatte ich danach keine Zeit mehr.

R: Ein neues Buch?

E: Auch das, ja. Ich habe jüngst den Thoni-Verlag gegründet.

R: Ich nehme Sie ernst. Sie sollten mich auch ernst nehmen.

E: Das ist ein verdammt ernstes Geschäft, ja. Also: Ich habe einen Verlag gegründet, weil ich meine Bücher verlegen will.

R: Häh?

E: Ich bin zum Gewerbeamt, hab ein Formular ausgefüllt und 25 Euronen auf den den Tisch geblättert. Das war`s.

R. Vielen Dank für das Gespräch. 

E: Ich bedanke mich bei Ihnen (gibt ihm die Hand. Grinst). Kompliment! Hast dich wirklich gut geschlagen, Rudi!

Samstag, 29. September 2012

Die Erfinderin. Das Interview. TEIL 5

Vom Leiden des Autors.


R: Zurück zu Herrn Hundekötter. Ein Mensch mit einem solchen Namen provoziert ja geradezu Abneigung. Und er agiert ja in der Tat unmöglich. 

E: Trotzdem trifft sich der Verleger mit ihm auf der Messe. Weil er merkt, dass hier jemand viel mehr als nur eine Geschichte geschrieben hat. Da hat ein Mensch sein ganzes Leben einem Wildfremden anvertraut, und eine Ablehnung beinhaltet nicht nur die Aussage, dass Hundekötter als Autor keine Chance hat. Ich lehne deine Geschichte ab, bedeutet in seinem Fall: Ich lehne dein Leben ab. Du bist nichts wert. Ein Problem, das viele Erstautoren haben, weil sie zu autobiografischen Themen neigen.

R: Aber es bleibt ja die Tatsache: Schriftsteller wird der liebe Herr Hundekötter in diesem Leben wohl nicht mehr werden.

E: Genau das ist das Problem: Der Verleger kann es nicht wirklich beurteilen. Er kann nur sagen: Dieses Manuskript geht gar nicht. Und die Arbeit, die vonnöten wäre, bis es ginge, ist ziemlich groß. Will heißen: Um Schriftsteller zu werden, müsste Herr Hundekötter noch viel lernen. Ob er dazu die nötige Einsicht und Ausdauer hat? Das Gespräch auf der Messe lässt eher das Gegenteil vermuten.

R: Das war aber nicht Ihre Hauptmotivation, diese Figur einzuführen, oder? 

E: Sondern?

R: Nach Ihren Ausführungen zum „inneren Team“ ist Hundekötter der Gegenpart zu Annabelle Chanson.

E: Ja. Im Vergleich zwischen der Profischreiberin Chanson und dem Dilettanten Hundekötter wird deutlich, was geschieht, wenn ein Akteur keinen angemessenen Gegenpart hat. Dann gewinnt entweder Chanson oder Hundekötter die Oberhand: hier die profitorientierte Autorin, die ohne jeden Skrupel alles schreibt, was der Markt will, oder dort der verschrobene Möchtegern-Autor, der glaubt, dass seine Gedanken, nur weil es seine Gedanken sind, die Welt zu interessieren haben. Beide schreiben nicht wirklich für die Leser; beide sind aber beleidigt, wenn die Leser sie abstrafen, indem sie sie nicht oder nicht mehr lesen. 

R: Wird Annabelle nicht vielmehr gezwungen, Geschichten zu schreiben, die sie gar nicht schreiben will, weil der Leser das so will? Diese Lisa Liesmich ist ja wirklich eine seltsame Person. 

E: Lisa will gute Bücher lesen, macht aber keine Anstalten, wirklich nach ihnen zu suchen. Was, zu ihren Gunsten muss es gesagt werden, auch zunehmend schwerer wird in der Welt der Büchertsunamis. Womit wir bei Bertis geschlossenem Laden wären: Es gibt immer weniger Fachkundige, die die Masse an Neuerscheinungen noch kanalisieren und für den Leser vorsortieren könnten. So schwappen sie ungefiltert durch alle Kanäle, und der Leser ist hoffnungslos überfordert. 

R: Welche Lösung schlagen Sie vor?

E: Ich habe meine Geschichte nicht geschrieben, um Lösungen vorzuschlagen. Hätte ich welche, die funktionieren würden, hätte ich wohl ausgesorgt. Ich glaube auch, dass es keine absoluten Lösungen gibt. Wenn selbst Berti sich breitschlagen lässt, gängigen Mainstream zu stapeln, kann Lisa genausogut bei amazon bestellen. Und wenn Berti nur hohe Literatur ausliegen hat, kommt Lisa erst gar nicht in seinen Laden. Andererseits: Wenn sie auch den vierunddreißigsten Band der Kitty-Reihe noch kauft, weil sie hofft, irgendwann müsste der Inhalt doch mal besser werden, kann man den Verlagen ja nicht ernsthaft vorwerfen, dass sie das bis zum vierundachtzigsten Band ausnutzen. Dass der Markt in Teilen genau so funktioniert, kann man wunderbar an den gar nicht seltenen Leserrezensionen sehen, die nach dem Motto verfasst sind: Ich hab mich halt verleiten lassen, das Buch (auch noch) zu kaufen, obwohl mir das letzte und vorletzte schon nicht gefallen hat. Und jetzt gefällt mir dieses auch nicht! 


R: Da kann man leichte Zweifel an der Kompetenz der Leser bekommen …

E: Allerdings. Wenn ein Autor in einem gewissen Genre oder sogar eine Reihe schreibt, wird er von einem zum anderen Buch seinen Schreibstil nicht ändern! Und dass gewisse Geschichten eben durchaus, na sagen wir mal: recht simpel erzählt werden, und dass es Leute gibt, die das gern lesen, ist doch in Ordnung. Das ist gar nicht das Problem. In diesen Fällen bestimmt die Nachfrage das Angebot. Aber wenn ich in Rezensionen oder sogar schon auf dem Umschlagtext lese, dass in einem Buch drastische Sexszenen vorkommen und die Sprache wenig literarisch ist und ich mag keine drastischen Sexszenen und liebe es, mich durch kluge Formulierungen unterhalten zu lassen, dann kaufe ich doch dieses Buch nicht! Es dennoch zu tun, nur weil es auf der Bestsellerliste steht und hinterher zu schreiben: Ich hab`s doch gleich gewusst! Das ist Lisa pur, die in der Ecke sitzt und schmollt, weil niemand die schönen Bücher produziert, die sie ja ach so gerne lesen würde. Wie auch, wenn sie ständig welche kauft, die ihr ohnehin nicht gefallen!

R: Das ist jetzt sehr böse.

E: Es ist ein Stück Selbstkritik. Es wäre gelogen, wenn ich behauptete, dass ich mich noch nie vom Mainstream hätte verleiten lassen. Aber es gibt ja leider auch den umgekehrten Fall: dass eine geschätzte Autorin oder ein Autor plötzlich nicht mehr lesbar ist.

R: Nennen Sie ein Beispiel.

E: Durch Empfehlung eines Buchhändlers bin ich vor vielen Jahren auf die – damals noch recht unbekannte – Minette Walters aufmerksam geworden. Im Eishaus war der erste Roman, den ich von ihr las. Ich war begeistert! Eine spannende Geschichte, interessante Figuren mit Ecken und Kanten. Mir gefiel der Erzählstil, das Einbinden von „externen Elementen“ in die Geschichte, eine Nachrichtennotiz, ein Bild. Das hatte was! Den zweiten Roman Die Bildhauerin fand ich sogar noch besser. Ich freute mich, dass die Autorin zwar regelmäßig neue Krimis veröffentlichte, die aber nicht, wie so oft üblich, in eine Serie mit den immer gleichen Ermittlern mündeten, sondern Solitäre blieben. Die Schandmaske, das dritte, las ich noch gern, aber danach war ich von Buch zu Buch immer mehr enttäuscht. Was mich anfangs fasziniert hatte, das Einbinden von fiktiven Briefen oder Aktenteilen, mutierte zu einer Besessenheit, die den Erzählfluss störte, die Figuren wurden weniger vielschichtig – es war schon früh klar, wer welche Rolle spielte und wer hier political correct war und wer nicht. Ich hatte das Gefühl, die Autorin habe sich in ihrem Kokon versponnen und schreibe nur noch für sich selbst. Dass es nicht nur mir so ging, sah ich an anderen Kritiken, aber auch an der Bestsellerliste. Ihre Romane werden heute nicht mehr von so vielen gelesen. Nun könnte man sagen: Na ja, sie hat eben aufgehört, den Mainstream zu bedienen. Sie macht ihr eigenes Ding, schert sich nicht um Erfordernisse einfach strukturierter Leser. Als Autorin könnte ich das unterschreiben, als Leserin muss ich konstatieren, dass die Sache viel profaner ist: Sie schreibt einfach keine spannenden Geschichten mehr. Lisa hätte sicher eine passende Kritik parat gehabt …

R: Haben Sie selbst als Autorin auch schon mit Lisas zu tun gehabt?

E (lacht): Allerdings! Und es hat eine Weile gedauert, bis ich eingesehen habe, dass Leser, die sich ärgern, das Recht haben müssen, diesem Ärger Luft zu machen. Immerhin haben sie dem Autor Geld und Zeit geopfert. Was ich nicht akzeptiere, sind persönliche Beleidigungen. Aber davon bin ich, bis auf ganz wenige Ausnahmen, bislang verschont geblieben. 

R: Was meinen Sie konkret?

E: Wenn jemand beispielsweise in einem rotzigen Satz zwei Jahre Schreibarbeit hinrichtet, indem er sinngemäß schreibt: Diese Autorin oder dieser Autor sollte mal besser bei Aldi an der Kasse sitzen, statt Papier zu beschmutzen, für das Bäume sterben müssen. Solche „Rezensenten“ sollten sich fragen, ob sie das einem Autor auch im realen Leben an den Kopf werfen würden. In einer Lesung oder auf der Buchmesse beispielsweise. Verstehen Sie mich nicht falsch: Es ist durchaus legitim, ein Buch zu verreißen, aber nicht den Menschen, der es geschrieben hat. Im Grunde sind wir Autoren sensible Wesen, und irgendwo sitzt immer auch ein bisschen unserer Seele zwischen den Buchdeckeln. Auch wenn`s nur nullachtfünfzehn Mainstream ist.

R: Welche Kritiken lesen Sie am liebsten?

E: Bei meinen Büchern: natürlich die mit fünf Sternen (lacht). Nein, im Ernst: Ich mag es, wenn ich einer Rezension anmerke, dass sich der Leser oder die Leserin mit der Geschichte auseinandergesetzt hat. Oder wenn es mir gelungen ist, sie zu fesseln. Wenn sie das Buch nicht mehr aus der Hand legen konnten. Wenn sie mit den Figuren mitgelitten, mitgefiebert, mitgeweint und mitgelacht haben. Woran man als Autor immer ein bissel knabbert, sind Negativkritiken, die in der Sache subjektiv angemessen, aber für für einen selbst (genauso subjektiv) despektierlich sind. Also: Wenn jemand etwas anderes erwartet hatte, wenn jemand meine Art zu erzählen nicht gefiel, oder gewisse Wendungen nicht, oder die Figuren.

R: Lesen ist subjektiv …

E: Genau das macht ja das Faszinierende dieses Mediums aus: Jeder liest das gleiche, aber nicht jeder dasselbe, weil jeder Leser die Geschichte mit seinem Leben, seinen Erfahrungen und Wertvorstellungen verbindet. Letztlich tut auch ein Autor nichts anderes, wenn er schreibt. Mag das Thema noch so skurril sein: Am Anfang steht die Neugier und das Interesse, sich mit genau diesem Thema, dieser Geschichte, diesen Figuren und ihrer Weltsicht auseinanderzusetzen. Das macht den kreativen Prozess aus, das, was Autoren sagen, wenn sie gefragt werden, warum sie schreiben müssen. Wir sehen die Dinge nicht, wie sie sind. Wir sehen sie, wie wir sind. Diese uralte Weisheit aus dem Talmud sagt viel über das Leben und das Schreiben. Prallen dann zwei sehr unterschiedliche Arten, die Dinge zu sehen aufeinander, verfasst Lisa genervt eine 1-Sterne-Kritik.
Andererseits können Negativkritiken, wenn sie gut begründet sind, eine bessere Hilfestellung für andere Leser sein als eine überschäumende 5-Punkte-Wertung, die zwar das Autorenherz erfreuen mag, aber inhaltlich mit: Super, unbedingt lesen!, nur die Weltsicht desjenigen spiegelt, dem das Buch gefallen hat. Es wird nicht das Buch gewürdigt und versucht darzulegen, warum es einem anderen Leser auch (nicht) gefallen könnte (was ja der Sinn einer Rezension ist), sondern es wird lediglich die eigene Lesebefindlichkeit kundgetan, ohne die Basis dieser Befindlichkeit zu benennen.

R: Das verstehe ich nicht. 

E: Wenn ich als Leserin ein Buch suche, schaue ich mir inzwischen zuerst die negativen Kritiken an. Natürlich nur diejenigen, die über drei Zeilen Lisa-Ätze hinausgehen, in denen der Verfasser zu beschreiben versucht, was ihm an diesem Buch missfallen hat. Nicht selten sind das genau die Punkte, die ICH suche, und so können Bücher und Leser auch über 1-Sterne-Rezensionen zusammenfinden. Aber ich betone ausdrücklich: Das ist meine Sichtweise als Leserin. Als Autorin freue ich mich wie Bolle selbst über die banalste Lobhudelei. So sind wir eben, wir Schreiberlinge.

Die Erfinderin. Das Interview. TEIL 4

Von klugen und von dummen Namen.


R: Wir haben den Verleger, es spielen mit eine Lektorin, der Buchhändler, die Leserin. Und mit Annabelle Chanson ist auch die professionelle Autorin auf Ihrer Bühne vertreten. Und dann gibt es noch diesen unsäglichen Herrn Hundekötter. Schon der Name …

E: Die Namen der Mitwirkenden sind allesamt nicht besonders originell.

R: Stimmt. Mich Rudi Ratlos zu nennen, ist schon unterirdisch.

E: In einer Offline-Geschichte würde ich das nicht machen, es sei denn, es wäre Satire. Aber in einer Geschichte, die häppchenweise online erzählt wird, müssen die Leser auf Anhieb wissen, wer wer ist. Vor allem, wenn sie über alle möglichen Seiteneinstiege, Links, Verweise womöglich mitten in die Geschichte hineinplatzen. Ein Buch liest man von vorn nach hinten, zumindest sollte man das annehmen (grinst), und die Charaktere entwickeln sich in der vom Autor vorgegebenen Chronologie. Der Offline-Leser hat Zeit, die Protagonisten kennenzulernen, sich in sie hineinzufühlen. Online geht das nur bedingt.


R: In einem Blog wird die Mehrzahl der Leute nur bestimmte Rubriken lesen ...

E: Deshalb musste ich mir überlegen, wie ich meinen Besuchern das Zurechtfinden erleichtere. Ein klassisches Mittel, Figuren rasch ihren Rollen zuzuweisen, ist das Verwenden von Stereotypen. Viele Genre-Romane sind nach solchen Schemata geschrieben: die starke, aber schicksalsgeprüfte Heldin, die am Ende ihren Traumprinzen findet, der fiese Chef, der endlich die gerechte Strafe bekommt, die Puffmutter mit dem großen Herzen. Auch mit der Namensgebung kann man Personen charakterisieren, ihnen eine bestimmte Funktion zuweisen. Die wenigsten Leser haben Lust, sich bei jedem Besuch aufs Neue zu fragen, wer in der Geschichte nun wer ist. Also habe ich die Namen so gewählt, dass Otto Normalleser nach einmaliger Lektüre DAS ENSEMBLE im Kopf haben müsste. Um dieses Ziel zu erreichen, helfen Alliteration und Klischees. Also wurden Sie Rudi Ratlos, der (gar nicht) rasende Reporter, der ein bissel einfältig ist und fürs Provinzblatt schreibt.

R: Das ist eine Frechheit!

E: Hilft aber. Genauso wie „Der Verleger“ sofort zuzuordnen ist, und Berti Buchmann, der Buchhändler. Eddy alias Ad Web ebenso. 

R: Und der Punkt hinter den Überschriften ist eine Reminiszenz an Herrn Buchmann und die gute alte Zeit.

E: Ich sag`s doch: Sie sind klüger, als Ihr Name vermuten lässt.

 

Freitag, 28. September 2012

Die Erfinderin. Das Interview. TEIL 3

Ein bisschen Berti fürs Morgen.
 
R: Welche Bedeutung hat die Geschichte des Thoni-Verlags für Sie?
 
E: Die Frage kommt zu früh, mein Lieber. Ich habe, wie erwähnt, einen Hauptberuf und neben dem Schreiben sehr viele andere Interessen. Ich musste dieses Bühnenstück nicht zwingend aufführen, und ich konnte es wegen anderweitiger Engagements auch nicht regelmäßig im Programm haben. Das führte zu unregelmäßigen Spieltagen, wenn man so will. Und es half, mit den Akteuren zwar ein bisschen bissig, aber nicht böse umzugehen. Ich betrachte DAS ENSEMBLE mit einem Augenzwinkern.
 
R: Das Stück ist eigentlich gar keine Verlagsgeschichte, sondern eine Hommage an Bücher, ans Lesen. Bevorzugt in ollen Ohrensesseln, wenn ich mal so frei formulieren darf. Wem Ihre uneingeschränkte Sympathie gilt, ist jedenfalls nicht schwer zu erraten.
 
E: Ja, den alten Buchhändler Berti mag ich. Aber ausgerechnet er spielt auf der Bühne nicht mit, er ist eine Erinnerung, eine Sehnsucht. Berti verkörpert das Gefühl, das man spürt, wenn man einen Duft aus der Kindheit riecht, wenn man etwas isst, das früher die Oma gekocht hat, eine Gegend nach langen Jahren wiedersieht, in der man als Kind glücklich war. Berti ist die Vergangenheit. Deshalb schließt er folgerichtig am Ende der Geschichte seinen Laden.
 
R: Sie hätten die Macht gehabt, es anders ausgehen zu lassen. 
 
E: Es ist der Gang der Dinge. Wobei ich mir wünschen würde, dass ein bisschen Berti in uns allen überlebt. Für diese Hoffnung steht der Verleger.
 
R: Welches bisschen?
 
E: Es gibt eine Passage im Tagebuch des Verlegers, in der er das Besondere an Bertis Art zu sprechen beschreibt: dass ältere Menschen, selbst solche, die nicht studiert haben, über eine ausgefeilte, schöne Sprache verfügen. Sie können sich im wahrsten Sinne des Wortes bedacht ausdrücken. Diese Bedachtsamkeit geht zunehmend verloren. Es wird geplappert, parliert und definiert, aber nicht mehr wirklich gesprochen. Man denkt nicht, sondern talkt oder tippt. Insofern hat sich die Befürchtung der frühen PC-Kritiker unter den Autoren bewahrheitet: Dass Texte zunehmend geschwätzig werden, sobald die Möglichkeit besteht, sie ohne jede Mühe unmittelbar am Bildschirm zu korrigieren. Wer noch in der Zeit der mechanischen Schreibmaschinen und mit Tipp-Ex aufgewachsen ist, wird wissen, was ich meine.
 
R: Noch mal zurück zu Berti. Warum ist ausgerechnet Ihr Lieblingsprotagonist kein Spieler auf Ihrer Bühne? Und was tut er dann überhaupt, wenn er nicht mitspielt?
 
E: Vielleicht habe ich es nicht richtig ausgedrückt. Berti steht hinter dem Vorhang und traut sich nicht raus.
 
R: Er ist also doch mehr als bloße Erinnerung.
 
E: Er sammelt das Leben. Natürlich sind das in erster Linie Erinnerungen. Ein Kind lebt vorwiegend im Jetzt. Es macht sich keine Gedanken über das Morgen, was strebsame Eltern naturgemäß verzweifeln lässt. Aber es ist eine ziemlich gesunde Art zu leben, und Erwachsene, die in ihrem Hamsterrad der Was-Wäre-Wenn-Welt gefangen sind, versuchen mit hohem Aufwand, dieses Gefühl wieder zu erleben. Indem sie teure Urlaubsreisen machen, meditieren, Achtsamkeit lernen. Sich fragen, warum sie sich zunehmend geburnout fühlen. Für junge Erwachsene ist Berti kein Mensch, den zu besuchen sich lohnte. Wenn man zwischen Kindheit und Erwachsen-Sein steht, möchte man mit allen Mitteln weg vom Muff der kleinen Läden, raus in die große Welt, ins pulsierende Leben, online gehen. Wenn der Rausch des Neuen vorbei ist, wird man feststellen, dass die große weite Welt in Wahrheit aus lauter kleinen Puzzleteilen zusammengesetzt ist, die womöglich spießiger sind als der kleinste Laden es je hätte sein können, und man sehnt sich zurück. Die Sinnesorgane unterstützen das … ein Geruch, eine Stimme, ein Gefühl, schon ist die Erinnerung da: an vorgeblich glückliche Kindertage, Geborgenheit, Heimat. Manche mögen sich das nicht eingestehen, für andere ist es die scheinbare Lösung all ihrer Probleme. Bei denen ist Berti ein sehr präsenter Akteur auf ihrer Bühne – und sie merken nicht, dass die Zuschauer immer weniger werden. Bei den anderen ist Berti im Keller unter der Bühne eingesperrt und hat nicht nur Auftritts-, sondern auch Präsenzverbot. Diese Sentimentalitäten verbitte ich mir!, würde Ad beim Kneipengespräch sagen. Und: Bleib mir vom Hals mit deinem verstaubten Buchladen! Du bist von gestern und vergessen.
Aber ich glaube, die weitaus meisten Menschen fühlen, dass Berti da ist und sie bedauern insgeheim, dass sie ihn nur so selten bitten, hinter dem Vorhang hervorzukommen. Dass sie keine Zeit mehr haben, auf ein Pläuschchen zu ihm in den Laden zu gehen und sich mit einer dicken Schwarte in den saugemütlichen Ohrensessel zu lümmeln. Diese Menschen wissen, dass Bertis Laden nicht zu retten ist, selbst beim besten Willen sämtlicher Lisa-Liesmichs dieser Welt nicht. Und wenn es bloß daran scheitert, dass gar nicht genug Leser in der Gegend wohnen, die ihn unterstützen könnten. Na ja, und wenn sie kämen, würden sie es aus moralischer Verpflichtung tun, aber nicht, weil sie in seinem Buchladen wirklich gut bedient werden würden. Bertis Existenz ist für sie schmerzhaft: Weil sie zeigt, dass Dinge, die ihnen einmal wichtig waren, aus der Mode gekommen sind. Und dass sie selbst älter werden und die Jugend nicht zurückzuholen ist. Genauso wie die Zeit der Postkutschen nicht zurückzuholen ist. Oder die der Schreibmaschine.
 
R: Der Verleger glaubt daran.
 
E: Ja, aber er belässt es nicht beim Dranglauben. Was er tut, ist meiner Meinung nach die einzige Möglichkeit, Berti am Leben zu erhalten: Den Laden kann er nicht retten, aber die Idee, die dahinter steht, vielleicht in die Gegenwart tragen, in der die Menschen nun mal leben. Und dazu muss er sich der Werkzeuge bedienen, die in die Jetztzeit gehören und nicht mehr die Wiese mit der Sense mähen.
 
R: Das heißt konkret?
 
E: Er muss akzeptieren, dass auch Ad ein Teil dieser Welt ist. Und einen vernünftigen Kompromiss finden, dass Berti damit leben kann.
 
R: Glauben Sie, dass Derry das gelungen ist?
 
E: Na also! Wofür hat er denn sonst den Thoni-Verlag gegründet? Andererseits: Womöglich ist tatsächlich für Berti kein Platz mehr auf der großen Bühne? Die Intention eines Autors zu verstehen, ist eine nachträgliche Legitimierung der Freude am Lesen. Aber sie kann die Freude nicht erzeugen. Insofern war das nicht relevant fürs Erzählen.
 
R. Und wo liegt die Intention dieser Aussage?
 
E: Die Dinge kann man nicht ändern, nur die Sicht darauf. Wie heißt es so schön in einem Sprichwort? Ein Kompromiss ist, wenn man einen Kuchen teilt und jeder glaubt, das größte Stück bekommen zu haben. Ich kann eine Geschichte erzählen, aber andere entscheiden, ob sie irgendeine Relevanz für sie hat. Nur dann ist Öffentlichkeit möglich und nötig. Autoren existieren also allein durch die Aufmerksamkeit und die Bedeutung, die ihre Leser ihnen schenken. Lesende, die Meinungsmacht haben, können die Bedeutung von Autoren erhöhen: Kritiker, Journalisten. Leser, die keine Meinungsmacht haben, also solche wie Lisa Liesmich, haben Massen-Macht, indem Abertausende Lisas dieser Welt ein bestimmtes Buch kaufen und den Autor damit in die Bestsellerlisten schießen.
 
R: Manchmal wirken Meinungsmacht und Massen-Macht zusammen.
 
E: Im optimalen Fall bedingt die erste Voraussetzung die zweite, und alle sind glücklich: Autor, Verleger, Sortimenter, Leser. Und Berti strahlt beim Bücher stapeln.